In Russland droht Homosexuellen und der HIV-Prävention eine Zeitenwende. Mit neuen antihomosexuellen Gesetzen soll das öffentliche Leben von Schwulen und Lesben radikal beschnitten werden. Die Aids-Organisationen, die sich speziell um die Aufklärung von Homosexuellen bemühen, stehen vor dem Aus. Sergiu Grimalschi, DAH-Referent für Internationales, erläutert im Gespräch mit Axel Schock die politischen Hintergründe und die Folgen.
Die russischen Regionen Rjasan und Archangelsk haben bereits Gesetze verabschiedet, die „öffentliche Aktivitäten“ unter hohe Strafen stellen, die im Beisein von Jugendlichen „Sodomie, Lesbianismus, Bisexualismus, Transsexualität und Pädophilie“ positiv darstellen. St. Petersburg, Kostroma und Moskau wollen nun mit vergleichbaren Verboten der „Schwulenpropaganda“ nachziehen. Welche Folgen werden diese Gesetze haben?
Alles, was sich an die Öffentlichkeit wendet, seien es Medienberichte, Veranstaltungen, Aufklärungs- und Beratungsangebote, wird dadurch eingedämmt werden. Viele Organisationen wie auch die Massenmedien werden sich selbst zensieren, um kein Risiko einzugehen und sich vor einer Verurteilung zu schützen. Ich kann mir zum Beispiel schwer vorstellen, dass das lesbisch-schwule Filmfestival in St. Petersburg in seiner bisherigen Form auch künftig wird stattfinden können.
Wenn, wie zu erwarten ist, auch die Schwulenmetropolen St. Petersburg und Moskau die antihomosexuellen Gesetze verabschieden, wird ein Sechstel der schwulen Männer in Russland unter diesen Repressionen leben. Bedeutet dies, das sich das öffentliche Leben der Schwulen und Lesben in Russland 2012 maßgeblich verändern wird?
Ein freies homosexuelles Leben wird in Russland kaum mehr möglich sein
Ich befürchte dies und hoffe zugleich, dass in der Auslegung der Gesetze dennoch Raum für homosexuelles Leben bleibt. Sicherlich werden sich Formen entwickeln, wie man dieses Gesetz umgehen kann. Außerdem wird es Abmachungen zwischen vielleicht moderateren Organisationen und lokalen Autoritäten geben. Eine solche Zusammenarbeit gab bisher beispielsweise zwischen homosexuellen Menschenrechtsorganisationen und St. Petersburger Behörden, insbesondere im Kulturbereich.
Kommen diese Gesetzesinitiativen von ganz oben oder eher von der regionalen Ebene, wo sie auch verabschiedet werden?
Sie kommen ganz eindeutig aus der regionalen Politik. Damit möchten Lokalpolitiker Ansehen bei der breiten Bevölkerung gewinnen. Letztlich sind diese Gesetzesinitiativen vom Mob diktiert. Über Putin und seine Regierung kann man sehr viel Schlechtes sagen, aber ich glaube nicht, dass von dort entsprechende Anweisungen kamen, anders als beispielsweise in der Drogenpolitik.
Homosexualität wird bewusst mit Pädophilie gleichgesetzt
Das heißt, diese antihomosexuellen Gesetze werden auch von einer Mehrheit der russischen Gesellschaft getragen?
Die russische Gesellschaft ist hinsichtlich Homosexualität eigentlich viel toleranter als viele andere südsosteuropäische Staaten wie etwa Serbien, die Türkei oder Bulgarien. Die Mehrheit der Bevölkerung möchte allerdings, dass auf gesellschaftliche Randgruppen pädagogisch mit repressiven Maßnahmen eingewirkt wird. Davon sind Drogengebraucher wie Homosexuelle gleichermaßen betroffen.
Dabei spielt der Schutz der Familie und der Jugend eine besondere Rolle. Dies sind Denkweisen, die aus den Tiefen der russischen Geschichte stammen, als man beispielsweise ungeliebte Randgruppen unterdrückte, um „die Errungenschaften des Sozialismus“ zu schützen. Das erklärt, warum in der Ausformulierung der Gesetze der Schutz der Jugend besonders betont und Homosexualität widersinnig mit Pädophilie gleichgesetzt wurde.
Das heißt, ein großer Teil der Gesellschaft glaubt, die Familie und den Staat vor dem negativen Einfluss der Homosexuellen schützen zu müssen?
Ja, sehr viele Russen sind der Ansicht, dass vermeintlich schlechtes Verhalten nachgeahmt wird. Nur wenige, selbst innerhalb des Schulsystems, setzen darauf, dass jeder Mensch durch Reflexion in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
Die Prävention bei schwulen und bisexuellen Männern wurde in Russland bisher maßgeblich durch Mittel aus dem Global Fund finanziert. Diese Förderung endete mit dem neuen Jahr. Was bedeutet dies für die Arbeit der HIV-Projekte?
Was die medizinische Versorgung angeht, sieht sich der russische Staat in der Verantwortung. Für die Prävention allerdings, gerade bei schwulen und bisexuellen Männern, gibt es so gut wie keine finanzielle Unterstützung mehr. Derzeit ist nur eine einzige Organisation von HIV-Positiven vom Staat für die landesweite Prävention beauftragt. Dort wird gute Arbeit geleistet, aber sie verfügen bei Weitem nicht über die tatsächlich notwendigen Kapazitäten.
Viele andere Projekte befinden sich heute in einer dramatischen Situation. Der Organisation LaSky beispielsweise, mit der wir zusammenarbeiten und die in zehn Regionen Russlands ein HIV-Präventionsnetzwerk aufgebaut hat, wurde die Förderung ersatzlos gestrichen. Allein ehrenamtlich ist diese Arbeit aber nicht zu stemmen, schon deshalb nicht, weil man dafür beispielsweise Streetwork-Materialien wie Broschüren oder Kondome braucht. Viele der Projekte liegen folglich auf Eis.
Viele HIV-Präventionsprojekte sind auf Eis gelegt
Steht das Aus dieser Förderungen im Zusammenhang mit den antihomosexuellen Gesetzesinitiativen?
Dies ist unabhängig davon geschehen, auch wenn tragischerweise zur gleichen Zeit. Der Global Fund hat seine Finanzierung eingestellt, weil es hier und da Korruption gab, vor allem aber, weil die Mitgliedsländer ihre versprochenen Beitragszahlungen nicht geleistet haben. Die zur Verfügung stehenden Mittel des Global Fund waren ausgeschöpft.
Man müsste eigentlich annehmen, dass ein Staat wie Russland kein Geld vom Global Fund benötigt, sondern die Kosten für Prävention selbst stemmen könnte.
Dass der Staat nicht sofort in diese Lücke springt und seine Verantwortung wahrnimmt, hat gewiss mit der Stimmung im Lande zu tun. Auf Verwaltungsebene gibt es sicherlich Menschen, die für die Zusammenarbeit mit NGOs verantwortlich sind und sich nun sehr genau überlegen, ob sie sich in der Prävention für Schwule einsetzen und entsprechende Projekte finanzieren oder darauf lieber verzichten, weil sie sonst womöglich mit dem Antihomosexuellengesetz in Konflikt geraten.
Ist den russischen Politikern bewusst, dass eine vernachlässigte Prävention zu steigenden Infektionszahlen und damit auch zu steigenden Behandlungskosten führen wird?
Man ist tatsächlich blind für diese Zusammenhänge. Vor allem aber herrscht die Überzeugung, dass die Belange von Randgruppen nicht zu den Hauptinteressen des Staates gehören. In Russland gibt es sicherlich eine strukturelle Homophobie, darüber hinaus aber auch eine generelle Ignoranz gegenüber sozialen Minderheiten. Hinzu kommt, dass in Russland Repression eine durchaus akzeptierte Form der Prävention darstellt, das gilt gerade auch gegenüber Drogengebrauchern. Zum anderen wurde versäumt, rechtzeitig die HIV-Statistiken auf den neuesten Stand zu bringen. Das erklärt vielleicht ein wenig die fehlende Motivation der politisch Verantwortlichen.
Das heißt, es gibt in Russland keine offiziell anerkannten Zahlen zu HIV bei schwulen und bisexuellen Männern?
Es gibt diese Zahlen, aber sie sind offensichtlich nicht hoch genug, um eine breit angelegte Prävention zu veranlassen, wie sie nach Ansicht von Fachleuten dringend notwendig wäre. Die Prognosen werden ignoriert. Hinzu kommt, dass es sehr viele HIV-Infektionen gibt, bei denen aus Angst oder Scham andere Infektionswege als Sex zwischen Männern angegeben wurden.
Die europaweit durchgeführte Internetumfrage EMIS ermittelte in den russischen Ballungszentren bei homosexuellen Männern eine HIV-Prävalenz von bis zu 12 %. Das müsste die politisch Verantwortlichen in Russland doch eigentlich alarmieren.
Dass es diese Zahlen gibt, ist mit ein Verdienst der DAH. Wir haben in die EMIS-Studie gezielt osteuropäische Länder einbezogen, um ihnen Daten für ihre Gesundheitspolitik zur Verfügung stellen zu können. Das sind allerdings nicht die Zahlen des nationalen russischen Aids-Komitees – deren Werte liegen deutlich niedriger.
Die Menschen aus Russland hoffen auf internationale Solidarität und Unterstützung
Wie können Institutionen oder Einzelpersonen in Deutschland die Homosexuellen in Russland unterstützen?
Das Wichtigste ist, dieses Phänomen nicht zu übersehen und zu sagen: Das ist weit weg, das geht uns nichts an. Man muss die Entwicklungen in Russland aufmerksam verfolgen und auch handeln. Dazu sind ganz besonders all jene aufgefordert, die mit HIV/Aids, Homosexualität sowie sexuellen und anderen Minderheiten befasst sind. Ich sehe aber auch eine Verantwortung im kulturellen Bereich. Wenn in St. Petersburg lesbisch-schwule Filme bald nicht mehr öffentlich gezeigt werden dürfen, wird man die Menschen einfach persönlich zu geschlossenen Vorführungen einladen und auf diese Weise das Verbot umgehen. Wichtig ist aber weiterhin, dass solche kulturellen Veranstaltungen überhaupt stattfinden. Hier hoffen die Organisationen in Russland auf Unterstützung, auch aus Deutschland. Die Erwartungen sind sehr groß, wie ich feststellen konnte, und es tut weh, zu sehen, dass es in dieser Hinsicht in Deutschland bislang noch große Zurückhaltung gibt.
Westliche Organisationen und Politiker sind in der Verantwortung
Wie könnte eine Unterstützung konkret aussehen?
Wir haben zum Beispiel zu vielen Organisationen Kontakt, die keine Aussichten auf Projektgelder haben, weil sie in Osteuropa noch nicht so bekannt sind. Hier sehe ich westliche Organisationen in der Verantwortung, gemeinsam mit den Kollegen in Osteuropa Projekte durchzuführen. Wir stehen als Deutsche AIDS-Hilfe bereit, Kontakte zu geeigneten Partnern in Russland herzustellen. Möglich ist auch eine Unterstützung im Rahmen von Städtepartnerschaften, so etwa in Form eines Austauschs. Ein deutscher Politiker, der einer Homosexuellen-Initiative einen offiziellen Besuch abstattet, kann damit ein deutliches Signal setzen und zudem den Menschen in Russland Mut machen. Nun ist bekannt, wie es in Russland derzeit um Schwule und Lesben und um Menschen mit HIV steht. Niemand kann später sagen, er habe nichts davon gewusst.
Wäre es nicht auch an der Zeit, dass in Deutschland auf höchster politischer Ebene gegen die antihomosexuellen Gesetze in Russland protestiert wird?
Selbstverständlich, und ich sehe auch dort große Zurückhaltung. Viele andere Länder haben sehr offen gegen die Gesetze protestiert. Ich bin froh, dass die Grünen hierzu eine Anfrage in den Bundestag eingebracht haben. Dabei sollte es aber nicht bleiben. Der Protest sollte nicht nur innerhalb Deutschlands kundgetan werden, sondern auch in Russland ankommen.
Weitere Informationen:
Meldung zu den russischen Gesetzesinitativen auf aidshilfe.de
Aufruf zur Unterstützung der Schwule und Lesben in Russland auf queer.de
Amnesty International über die anti-homoseuellen Gesetze in der Russischen Föderation
lgbtnation.com über die Vorgänge in Russland
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion (Bündnis 90/Die Grünen)
Online-Petition gegen die Gesetzesinitativen auf allout.org.