In einem Kalenderblatt erinnern wir an den „Maßnahmenkatalog zur Abwehr von AIDS“, der am 25. Februar 1987 von der bayerischen Staatsregierung beschlossen wurde. Axel Schock sprach aus diesem Anlass mit Guido Vael, Mitbegründer und langjähriger Vorstand der Münchner Aids-Hilfe. Er organisierte 1987 die über die Landesgrenze hinaus beachtete Anti-Gauweiler-Demo.
Wie konnte der CSU-Politiker Peter Gauweiler damals zu einem solch politischen Schreckgespenst werden?
Guido Vael: Gauweiler war schon während seiner Zeit als Kreisverwaltungsreferent in München als Hardliner aufgefallen. Als oberster Ordnungshüter der Stadt hatte er einen Brief ans bayrische Innenministerium geschrieben und konkrete Vorschläge gemacht, wie auf Aids reagiert werden sollte. Seine Ideen reichten vom Zwangstest bis hin zur Reihenuntersuchung der Hauptbetroffenengruppen. Kurz darauf wurde er zum Staatsekretär ernannt und konnte somit seinen Brief dann gleich selbst beantworten.
Gauweilers Maßnahmenkatalog sah unter anderem vor, „Ansteckungsverdächtige“ gegebenenfalls auch zwangsweise auf HIV zu testen. Auch Beamtenanwärter mussten sich testen lassen. Und wenn sich ein Infizierter als „uneinsichtig“ erwies und nicht auf sexuelle Kontakte verzichtete, sollte die ärztliche Schweigepflicht aufgehoben und eine „Absonderung“ angeordnet werden können.
Vael: Auch Migranten und ausländische Mitbürger wurden zwangsgetestet. Ich erinnere mich an Kanadier und US-Amerikaner, die danach ausgewiesen wurden. Interessant war, dass in diesem gesamten Katalog kein einziges Mal der Begriffe „homosexuell“ vorkam. Es ging primär um Drogengebraucher und Prostituierte beiderlei Geschlechts. Alle anderen subsumierte man unter Begriffen wie „ausscheidungsverdächtig“; damit waren natürlich die Schwulen gemeint.
Ziel war es, die schwule Infrastruktur zu zerschlagen
Welche Taktik steckte dahinter?
Vael: Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Gespräch mit Gauweiler, bei dem er dies genau erklärte: Er wollte nicht in Zusammenhang mit der Homosexuellenverfolgung im „Dritten Reich“ gebracht werden. Er wusste, dass die Schwulen über eine starke Bewegung und Lobby verfügten. Sein Ziel war jedoch, diese schwule Infrastruktur zu zerschlagen. Das sprach er sogar ganz offen aus.
Hatte er Erfolg damit?
Vael: Es wurden einige Lokale und Saunen geschlossen, manchmal unter vorgeschobenen Gründen, etwa wegen angeblich fehlender Schanklizenzen. Die Saunen wiederum wurden angewiesen, die Kabinentüren auszuhängen und eine gewisse Lichtstärke zu gewährleisten. Damit sollte verhindert werden, dass dort Sex stattfindet.
Wie war die Stimmung innerhalb der schwulen Szene angesichts dieser Aktionen?
Vael: Es herrschte eine große Verunsicherung und bei vielen auch nackte Angst. Geschürt wurde sie durch ständige Razzien in Kneipen, Parks, Saunen und an anderen schwulen Treffpunkten.
Wie wurden diese Razzien denn begründet?
Vael: Offiziell ging man dann Hinweisen auf Drogen nach oder kontrollierte, ob sich Minderjährige im Lokal aufhielten. Es war allerdings schon komisch, dass es bei diesen angeblichen Drogenrazzien nie Taschenkontrollen gab, sondern nur die Personalien aufgenommen wurden. Und selbst ich, der ich damals nun sichtlich schon über 18 Jahre alt war, musste meinen Ausweis zeigen, um zu belegen, dass ich nicht minderjährig bin. Es ging allein um Schikane. Ich erinnere mich an eine Razzia in einem Lokal, in dem zu dem Zeitpunkt auch HIV-infizierte Bekannte von mir saßen. Die bekamen einen fürchterlichen Schreck und dachten: „Die suchen nach uns und holen uns jetzt ab.“ Dieser Vorfall war bezeichnend für die Atmosphäre und Stimmung, die damals innerhalb der schwulen Szene herrschte.
Der Ruf der Stadt war für Jahrzehnte zerstört
Bayern und speziell München hatte sehr deutlich gemacht, dass Schwule nicht erwünscht sind.
Vael: Der Maßnahmenkatalog hat auch über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen gesorgt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich sogar Fernsehjournalisten aus den Niederlanden und Japan Interviews gegeben habe. Viele Leute sind damals aus München weggezogen. Der Ruf der Stadt war für Jahrzehnte nachhaltig zerstört, zum Teil bis heute, obwohl die bayrische Aidspolitik heute mustergültig ist. Und auch die Situation von Schwulen ist heute beispielhaft für den Rest der Republik, das betone ich ganz bewusst.
Konntet ihr mit eurem Protest vonseiten der Aids- und Homosexuellenorganisationen mit Unterstützung aus anderen gesellschaftlichen Bereichen rechnen?
Vael: Solidarität kam vor allen von eher links orientierten Organisationen, etwa den Grünen, der Humanistischen Union und der DKP. Zur Anti-Gaulweiler-Demonstration kamen über 10.000 Menschen auf den Marienplatz. Es war eine der größten Protestaktionen, die München bis dahin erlebt hatte.
Durch den Maßnahmenkatalog wurden die Ängste in der Bevölkerung weiter geschürt
Wie stand denn der gewöhnliche Bayer zu Gauweilers Vorstoß?
Vael: Die Allgemeinbevölkerung war mehrheitlich schlicht von Angst ergriffen. Durch die Veröffentlichung des Maßnahmenkatalogs wurden diese Ängste eher noch geschürt, als dass die Menschen beruhigt wurden. Ich erinnere mich an Anrufe bei unserer Aids-Telefonberatung mit Fragen wie: „Bei uns wohnt ein Schwuler im Haus. Müssen wir jetzt die Türklinken desinfizieren?“ Wir hatten schon bei den ersten „Spiegel“-Artikeln zu Aids eine Pogromstimmung im Land befürchtet, weil hier Aids als „Lustseuche“ bezeichnet und als Folge des schwulen Lebensstils dargestellt wurde. Das Schwulsein an sich war bereits die Bedrohung, nicht das Virus und die Infektion.
Es gab damals das Gerücht, Gauweilers Attacken seien ein Akt schwulen Selbsthasses, und angeblich gab es verfängliche Fotos, auf denen Gauweiler mit einem Callboy namens Randy zu sehen sein sollte. War dies eine Form der Gegenwehr durch schwule Denunziation?
Vael: Ich buche das Ganze mal unter dem Begriff „schwules Wunschdenken“ ab. Ich bin auf diese Fotos häufig angesprochen worden. Fakt ist, dass sie nie aufgetaucht sind. Wahrscheinlich gab es sie nie. Was hingen wohl stimmt, ist, dass Peter Gauweiler als Student Gast des Münchner Travestielokals „Die Spinne“ war. Bezeichnenderweise war dies eines der ersten schwulen Lokale, die Gauweiler im Zuge des Maßnahmenkatalogs schließen ließ. Der offizielle Grund übrigens war: Man hatte dort Kondome gefunden.
Kondome waren in schwulen Lokalen nicht erlaubt
Was war so schlimm an Kondomen?
Damit schien bewiesen, dass in diesem Lokal Sex stattfindet. Daher wurde das Lokal, das außerhalb des absoluten Sperrgebiets lag, wegen Unzuverlässigkeit geschlossen.In den schwulen Lokalen durften damals keine Kondome vorrätig sein. Das leiste der Unzucht Vorschub, so die Argumentation. Wir haben mit Gauweilers Nachfolger dann immerhin vereinbaren können, dass wir als Aids-Präventionisten Kondome verteilen durften. Und dann haben wir kurzerhand einige Wirte offiziell zu ehrenamtlichen Aidshilfe-Mitarbeitern erklärt, damit auch sie Kondome verteilen durften.
Hätten sie denn in ihren Lokalen welche verkaufen können?
Vael: Nein, dies hätte gegen das Ladenschlussgesetz verstoßen. Papiertaschentücher für den spontanen Niesanfall und Schokolade für nächtlichen Hunger hingegen waren erlaubt.
Wem ist zu verdanken, dass der Maßnahmenkatalog abgeschafft wurde?
Vael: Der Einsicht der bayrischen Staatsregierung. Sie haben irgendwann bemerkt, dass die Linie der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth – Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung – erfolgreicher ist. Irgendwann, das war ein schleichender Prozess, wurde der Maßnahmenkatalog nicht mehr angewendet. Ende der 90er Jahre kam schließlich ein amtliches Rundschreiben, in dem erklärt wurde, dass der Maßnahmenkatalog nicht mehr gültig ist.
Weitere Informationen
Galerie der Zeitung „Die Welt“ mit Stimmungsbildern zu Aids in Deutschland 1987