Seit November sind 40 HIV-Positive im Rahmen des Projekts „positive stimmen – Leben mit HIV und Stigmatisierung“ in ganz Deutschland unterwegs und befragen andere Menschen mit HIV zu ihren Erfahrungen mit Stigmatisierung und Diskriminierung. Mehrere hundert Interviews sind bereits geführt, weitere werden folgen. Jetzt ist Halbzeit bei „positive stimmen“ und ein guter Moment, um innezuhalten und zu schauen, was bis jetzt erreicht wurde und wie es weitergehen soll. Carmen Vallero sprach darüber mit Michael Jähme aus dem Projektbeirat und Carolin Vierneisel, die das Projekt in der DAH koordiniert.
Was haben euch die Interviewerinnen und Interviewer bisher zurückgemeldet?
Carolin: Viele haben uns mitgeteilt, dass sie vor allem von den Begegnungen mit anderen HIV-Positiven, von ihren Lebensgeschichten und Erlebnissen beeindruckt sind. Allein schon die Tatsache, dass man sich zusammensetzt, um über Stigmatisierung nachzudenken und zu sprechen, wird als sehr eindringlich erlebt. Bei den Interviews entstehen oft sehr persönliche Kontakte, man tauscht Informationen aus, lernt Neues kennen. Manche Befragte haben zum Beispiel erst auf diesem Weg von den Positiventreffen im Waldschlösschen erfahren.
Anderen mitteilen zu können, was passiert ist, stärkt das Selbstwertgefühl
Michael, als Mitglied des Projektbeirats hast du einen guten Kontakt zu den Communities. Wie wird „positive stimmen“ dort aufgenommen?
Michael: Immer wieder höre ich von Interviewten, dass sie vorher unsicher waren und sich fragten, was das denn bringen solle, danach aber überrascht waren, weil alles so gut gelaufen ist und die Interviewer sich so viel Zeit genommen haben. Das Gespräch, so sagen sie, habe beiden Seiten viel gebracht. Mein Eindruck ist, dass viele unserer Interviewer die Gespräche mit großem Engagement und Einfühlungsvermögen gestalten. Daher kann ich Carolins Aussage nur bestätigen: Es gibt viele bereichernde Begegnungen.
Man nimmt sich Zeit, um HIV-Positiven zuzuhören – das scheint etwas Besonderes zu sein…
Michael: Das scheint die Interviewten tatsächlich sehr zu beeindrucken. Im Alltag und auch in den Aidshilfen ist es offenbar nicht immer so, dass HIV-Positive ihre Erlebnisse erzählen können und Zeit zum Zuhören da ist. Als Berater in meiner Aidshilfe und auch in der Onlineberatung bitte ich Rat Suchende immer wieder, genau zu erzählen, was sie erlebt haben und wie sie es erlebt haben. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass Traumatisierte eine Öffentlichkeit brauchen. Das wirkt heilsam bei den seelischen Verletzungen und Kränkungen. Auch bei Stigmatisierung und Diskriminierung ist es wichtig, anderen mitteilen zu können, was passiert ist. Die Erfahrung, mit schlimmen Erlebnissen nicht allein gelassen zu werden, tut gut und stärkt das Selbstwertgefühl.
Das Projekt lädt dazu ein, sich gemeinsam lautstark zu empören
Das bedeutet, dass „positive stimmen“ weit mehr leistet, als Erfahrungen zu dokumentieren.
Michael: Ganz bestimmt! In der Beratungsstelle wird immer nur der Einzelfall in der akuten Situation geschildert und bearbeitet – höchstens bei dramatischen Erlebnissen erfährt auch die breite Öffentlichkeit davon. Das Projekt „positive stimmen“ erzeugt dagegen ein Gemeinschaftsgefühl. Hier wird deutlich, was jede und jeder von uns im Alltag aushalten muss. Jetzt kann dieser Druck endlich mal raus. Das Projekt lädt quasi dazu ein, sich gemeinsam lautstark zu empören. Damit überwinden wir die Vereinzelung.
Im ersten Treffen des Projektbeirats hast du gesagt, du möchtest erreichen, dass sich das Bild von Menschen mit HIV ändert. Was können HIV-Positive selbst dafür tun?
Michael: Menschen mit HIV leisten unglaublich viel. Ihnen steht Anerkennung und Wertschätzung zu, statt dass man sie ablehnt und beleidigt. Wir sind die Experten, wir wissen Bescheid, was wir im Leben mit HIV tun müssen, um uns und unseren Mitmenschen gerecht zu werden. Die Angst der anderen wird uns nicht gerecht. Es ist genau anders herum, als es oft gesehen wird: Nicht wir haben etwas zu gestehen – zum Beispiel, dass wir positiv sind -, sondern die anderen müssen ein Geständnis ablegen über ihr Halb- und Fehlwissen und ihre Vorurteile! Das Leben mit HIV ist ganz anders, als die meisten sich das vorstellen. HIV-Positive dürfen sich stark fühlen, sie dürfen sich empören und fordern, dass es nicht in Ordnung ist, sie zu benachteiligen.
Wir sind nicht mehr bereit, uns selbst zu stigmatisieren und Ausgrenzung hinzunehmen
Ist „positive stimmen“ dafür ein erster Ansatz?
Michael: Nicht der erste, sondern ein weiterer Ansatz. Wir leben heute in einer Zeit, in der HIV in der Regel nicht mehr tödlich und die Infektiosität unter Kontrolle gebracht ist. Die Situation ist völlig anders als zu Beginn der Aids-Ära. Unsere Emotionalität hat sich geändert: Wir sind nicht mehr bereit, uns selbst zu stigmatisieren und hinzunehmen, dass Ausgrenzung der Preis ist, den Menschen mit HIV zu zahlen haben. Wir waren früher vereinzelt und sozusagen „leise Stimmen“. Ich wünsche mir, dass wir durch „positive stimmen“ lautstark werden, dass wir beeindrucken und etwas verändern, dass wir starkes Vorbild werden für diejenigen, die jetzt ihre HIV-Diagnose bekommen und ein langes Leben vor sich haben.
Ihr wolltet in das Projekt möglichst viele Orte einbinden, an denen Menschen mit HIV erreichbar sind: Schwerpunktpraxen, HIV-Ambulanzen, Gesundheitsämter und natürlich die regionalen Aidshilfen. Ist das gelungen?
Carolin: In sehr vielen Städten sind wir auf offene Ohren und großes Interesse gestoßen. Zahlreiche Aidshilfen unterstützen die Suche nach Interviewpartnerinnen und -partnern, indem sie Flyer auslegen, HIV-Positive auf das Projekt aufmerksam machen oder Räume für die Interviews bereitstellen. Wir haben allerdings noch zwei Monate vor uns, in denen Interviews zu führen sind. Deshalb freuen wir uns riesig, wenn die Aidshilfen und andere Einrichtungen – Ambulanzen, Praxen, Wohnprojekte – weiterhin mit uns im Projekt zusammenarbeiten wollen.
Macht mit, lasst euch interviewen!
„positive stimmen“ wird im Juli 2012 abgeschlossen. Soll die Diskussion zu Stigmatisierung danach weitergeführt werden?
Michael: Sie muss weitergehen! Wir brauchen ein bundesweites Netz von Seismografen, die ständig registrieren und dokumentieren, was Menschen mit HIV an Unrecht erleben. Wir konnten bisher ja erleben, wie wichtig das Erzählen und Gehörtwerden für die Einzelnen ist. Mich interessiert nun, ob die Gespräche auch die Interviewerinnen und Interviewer verändert haben und welche inneren Prozesse dadurch losgetreten wurden. Sie könnten eine wesentliche Rolle spielen bei der Frage, wie es weitergehen muss. Wenn man mitbekommt, was Menschen mit HIV alles aushalten müssen, dann will man doch auch, dass sich etwas verändert. Wie es weitergehen soll, hängt natürlich auch davon ab, welche Probleme und Handlungsbedarfe die Auswertung der Interviews offenlegen wird.
Carolin: Die Auswertungsergebnisse wollen wir auf der Selbsthilfekonferenz „Positive Begegnungen“ im August 2012 präsentieren und diskutieren, um dann weitere Schritte zu überlegen. Jetzt aber fangen wir erst mal mit der Dateneingabe an – bei den bisher 500 geführten Interviews mit Fragen auf 23 Seiten keine kleine Aufgabe. Und bis Ende März wollen wir natürlich noch viele weitere „positive stimmen“ einfangen. Daher auch an dieser Stelle noch mal der Aufruf: Macht mit, lasst euch interviewen! Mitmachen kann auch, wer keine Stigmatisierung erfahren hat – das Ziel ist ja, ein möglichst rundes Bild von der Situation der Menschen mit HIV in Deutschland zu bekommen.
Weitere Informationen zu „positive stimmen“