Die Kraft der Wut

ACT-UP-Button Schweigen ist gleich Tod

Schweigen ist gleich Tod: einer der bekanntesten ACT-UP-Slogans

Vor 25 Jahren, am 24. März 1987, legten rund 250 Demonstranten zur Hauptverkehrszeit die Wall Street lahm und drangen bis aufs Börsenparkett vor, um so unter anderem gegen den hohen Preis für das gerade zugelassene erste HIV-Medikament zu protestieren. Es war die erste der spektakulären Aktionen von ACT UP, der „AIDS Coalition to Unleash Power“ (zu deutsch: „AIDS-Koalition, um Kraft freizusetzen“), die wenige Tage zuvor unter anderem vom Schwulenaktivisten Larry Kramer gegründet worden war. Anlässlich dieses Jahrestages sprach Axel Schock mit der Politologin und Journalistin Corinna Gekeler, die viele Jahre auf europäischer Ebene für ACT UP aktiv war und zu den ACT-UP-Vorbereitungsteams der Welt-Aids-Konferenzen in Amsterdam (1992) und Berlin (1993) gehörte.

Corinna, was hat die Menschen damals in New York auf die Straße getrieben?

Es war Wut. Die Wut darüber, dass die Pharmafirmen keinerlei Interesse an Grundlagenforschung hatten, sondern nur an schnellem Profit. Die Preise der Medikamente waren so hoch, dass sie sich selbst die meisten US-Amerikaner nicht leisten konnten, geschweige denn Menschen in Afrika. In der Politik fühlte sich damals niemand in Sachen Aids wirklich verantwortlich. Es gab Ärzte, die Aidspatienten nicht behandeln wollten. Und auch in der Pflege von Menschen mit Aids herrschte Notstand.

Niemand außer uns wird unseren Arsch retten

ACT-UP-Proteste waren stets sehr medienwirksam und oft Akte des zivilen Ungehorsams. Etwa die „Die-ins“, bei denen Demonstranten Straßen oder auch Institutionen lahmlegten, indem sie sich wie tot dort niederfallen ließen.

Die Aktionen waren nie gewalttätig, die Forderungen und Ausdrucksmittel allerdings radikal. Man ging letztlich auch aus purer Überlebensangst auf die Straße. In den USA lautete einer der Slogans„Put the crisis into their face“, in Deutschland wurde „Aids hat ein Gesicht“ geprägt. Die Menschen wollten sich nicht länger verstecken und selbst stigmatisieren. Die zentralen Slogans lauteten deshalb auch „Silence = Death“ und „Action = Live.“ Reagan hatte das Wort Aids über Jahre vermieden. Es war klar: Wenn wir uns weiter verstecken, dann werden wir vergessen, und niemand außer uns ist daran interessiert, unseren Arsch zu retten.

Die Logos und Plakatmotive waren ja auch gestalterisch sehr einprägsam.

ACT-UP-Demo

ACT-UP-Demonstration in New York (Foto: Archiv ACT UP NY)

ACT UP war, auch durch die Zusammenarbeit mit der Künstlergruppe Gran Fury und Keith Haring, eine künstlerisch sehr befruchtende und phantasievolle Sache. Aber auch die Aktionsformen waren für die damalige Zeit innovativ. In New York kamen zu spontanen Aktionen schnell mal dreihundert Leute zusammen – und das mitten in der Woche und ohne Soziale Medien, wie wir sie heute kennen. Man organisierte sich durch Telefonketten.

ACT-UP-Gruppen haben sich auch in vielen europäischen Staaten gegründet, in Deutschland gab es sie in den besten Zeiten in zehn Städten von Bonn bis Würzburg. Was hat die Aktivisten in Deutschland angetrieben?

In Deutschland war man durch die Aktionen gegen den bayrischen Staatssekretär Peter Gauweiler, der Stimmung gegen Schwule machte, bereits zu HIV und Aids politisiert. Wir thematisierten auch den Zugang zu Studien, die europäischen Zulassungsverfahren für Medikamente, Forschung zu infizierten Frauen, Spritzenaustausch in Gefängnissen. Und wir übernahmen Forderungen aus den USA, die zum Beispiel bei den Themen USA-Einreiseverbot für HIV-Positive oder Medikamentenpreise auch uns Europäer betrafen.

Der harte Kern von ACT UP Deutschland blieb aber vergleichsweise klein. Woran lag das?

Den Sex wollte man sich nicht nehmen lassen, aber zum herkömmlichen schwulen Selbstbild passt eben nicht, dass es richtig heftige Missstände im eigenen Lebensumfeld gibt: Menschen, die nicht behandelt werden, weil sie an Aids erkrankt sind, die nicht ordentlich versorgt werden und daran sterben – damit wollten sich viele dann lieber nicht konfrontieren.

Die Angst in produktive Wut verwandeln

Woran lag das?

Oft hatten sie einfach Angst und konnten diese Angst nicht in produktive Wut verwandeln. Für viele war es doch eher ungenehm, sich für ein solches Thema zu engagieren. Der CSD ist dann eben doch bunter und lustiger. An einigen Aktionen wie der Besetzung des Fuldaer Doms anlässlich der Deutschen Bischofskonferenz oder der Demo zur Welt-Aids-Konferenz in Berlin haben sich allerdings sehr viele Menschen beteiligt. Es musste aber nicht immer eine große Demo mit vielen Transparenten sein, meist reichte schon eine Handvoll Leute. Wenn Ärzte sich weigerten, aidskranke Patienten zu behandeln, dann haben wir uns eben einfach in die Praxis gestellt, bis man mit uns über diesen Missstand gesprochen hat.

Zeitungsbericht über ACT-UP

Die "New York Times" über die erste ACT-UP-Aktion 1987 (Abbildung: Archiv ACT UP NY)

Ging in Europa der straßenkämpferische Aktionismus mit der Aidshilfebewegung zusammen?

In Amsterdam entstand ACT UP aus einer zunächst sehr braven, ersten Positivenbewegung heraus. Die offiziellen Aids-Institutionen hingegen wollten sich nicht wirklich mit Positiven unterhalten. In Deutschland ist es etwas anderes, da die Aidshilfe aus der Community heraus gegründet wurde. Allerdings hat ein solcher Verband und die Aidshilfen vor Ort auch sehr viele Energien aus Potenzialen für Selbsthilfe und Aktivismus gebündelt. Außerdem konnten die staatlich subventionierten Stellen lange nicht all diese Themen abdecken, um die es ACT UP ging.

ACT UP war also so etwas wie eine radikale Denkfabrik?

Ich denke, dass die Aidshilfe einiges von ACT UP gelernt hat, weniger von den Aktionsformen als vielmehr, was die Themen angeht.

Das C in ACT UP steht für Coalition. Was ist damit gemeint?

ACT UP wollte nie bloß ein verlängerter Arm der Schwulenbewegung sein. Dass Junkies genauso dazugehören wie Frauen, Bisexuelle und Transsexuelle, war für ACT UP nicht lediglich ein Akt der Solidarität. Es war einfach selbstverständlich, dass man sich für die Belange der anderen mit einsetzte, denn das Virus kennt diese Identitäten nicht. Dieser Gedanke ist dann auch in die Aidshilfen weitergetragen worden. Aber dass man als Bewegung Dinge tatsächlich zusammen unternimmt, habe ich nur bei ACT UP erlebt: Dass Schwule Spritzen über Gefängnismauern werfen und Lesben mit Kondomen in der Hand sich für Prävention beim Analsex einsetzen. Dieser Gedanke hat bei den Aidshilfen auch gefruchtet, aber er wurde meiner Ansicht nach nie so lebendig gelebt wie bei ACT UP.

ACT UP  hat wichtige neue Themen in die Aids-Konferenzen eingebracht

Hat ACT UP neben medienwirksamen Protesten auch noch in anderen Formen gearbeitet?

Ein großer Teil unserer Arbeit fand tatsächlich hinter den Kulissen statt. Wir haben zum Beispiel im Vorfeld der Welt-Aids-Konferenzen hoch spezialisierte inhaltliche Auseinandersetzungen mit den entscheidenden Wissenschaftlern geführt, und zwar auf Augenhöhe: welche Grundlagenforschung wir wollen, warum wir bestimmte Studien für unethisch halten und dass diese deshalb nicht präsentiert werden dürfen, welche Rechte Patientenräte in den Studien haben sollen und warum Langzeitüberlebende erforscht werden müssen. Wir haben tatsächlich Maßstäbe gesetzt und wichtige neue Themen in die Konferenzen eingebracht.

ACT-UP-Demonstrant

ACT-UP-Demonstrant 1988 (Foto: US National Library of Medicine Collection)

In Deutschland war damals Karl-Otto Habermehl, Professor am Institut für Klinische und Experimentelle Virologie der FU Berlin, einer der maßgeblichen Forscher im Bereich HIV.

Mit ihm haben wir uns bestimmt zu sieben, acht Sitzungen getroffen. Er war noch nie positiven Menschen begegnet und hatte HIV bis dahin nur im Mikroskop gesehen. Er war dann völlig baff, dass da nicht ein paar ruppige Randalierer ankamen, sondern Leute, die sich ordentlich artikulieren und  tatsächlich mit ihm über Virologie unterhalten konnten.

Der Erfolg von ACT UP hing stark von einzelnen Personen ab

In den USA, aber auch in Paris sind ACT-UP-Gruppen bis heute aktiv. Wann ist ACT UP in Deutschland eingeschlafen?

Der Erfolg von ACT UP hing immer sehr stark von Personen ab. In Berlin etwa gab mit Andreas Salmen eine sehr charismatische Figur. Als er gestorben war, riss dies eine Lücke, die nicht mehr gefüllt werden konnte. Ich denke, die Luft war 1993 mit der Welt-Aids-Konferenz in Berlin im Wesentlichen raus. In Frankfurt hat ACT UP noch bis Ende der 1990er Jahre weitergemacht.

Was waren die Gründe? War man müde geworden?

Viele Dinge hatte man erreicht: der Zugang zu Medikamentenstudien war geregelt, Positive dürfen an Aids-Konferenzen teilnehmen, Frauen waren auch Thema in der offiziellen Aidspolitik und Gauweiler hatte sich nicht durchgesetzt.

Warum hast du mit ACT UP aufgehört?

Weil ich zu der Ansicht kam, dass ich journalistisch mehr erreichen kann. Viele ACT-UP-Mitstreiter sind beim Thema geblieben, arbeiten an offiziellen Stellen im Aidsbereich oder haben ihre Energie in andere HIV-Projekte gesteckt, wie etwa Ulrich Würdemann mit seinem tollen Blog Ondamaris. Man muss allerdings auch feststellen, dass der politische Aktivismus – und das betraf nicht nur die Aids- und Schwulenbewegung – ab Mitte der 90er Jahre ziemlich out war. Erst mit ATTAC, ACTA und Occupy erlebte diese Form des politischen Engagements wieder ein Revival.

ACT-UP-Demo

ACT-UP-Demo in New York 2009 gegen das antihomosexuelle Gesetz in Uganda (Foto: ACT UP NY)

Was ist von der Arbeit von ACT UP geblieben?

ACT UP hat wichtige Themen überhaupt erst einmal auf die Agenda gebracht und dafür gesorgt, dass man bei bestimmten Fragen hellhöriger und wachsamer ist. Dass Positive zu einem Aids-Kongress gehen können, sehen wir heute als Selbstverständlichkeit. Damals hätte es deshalb bei der Welt-Aids-Konferenz in Berlin fast einen Eklat gegeben. Es war wichtig, dass ACT UP für dieses Recht gestritten hat. ACT UP hat auch dafür gesorgt, dass die Welt-Aids-Konferenz 1992 wegen des US-Einreiseverbots für Menschen mit HIV von Boston nach Amsterdam verlegt wurde und bis zur Aufhebung dieser Bestimmungen im Jahr 2010 keine weitere Konferenz mehr in den USA stattfinden konnte. Und ich denke, dass es auch den ACT-UP-Aktionen auf den Welt-Aids-Konferenzen zu verdanken ist, dass die Pharmafirmen zunehmend ihre Preispolitik überdachten.

ACT UP hätte die „Bild”-Redaktion besetzt

Fehlt heute ACT UP? Benötigt die Aidshilfebewegung vielleicht wieder ein wenig „Feuer unterm Arsch“, um einen deutschen Slogan von damals aufzugreifen?

Ich denke, es wäre gut, bei bestimmten Anlässen auf wunde Punkte wie etwa die Kriminalisierung von HIV oder die Zustände in den Gefängnissen hinzuweisen. ACT UP hat gezeigt, dass es nicht unbedingt sehr vieler Leute bedarf, um etwas zu bewirken. Man muss es lediglich mit Fantasie und guten Argumenten machen. Und es braucht natürlich auch Persönlichkeiten, die die Forderungen in die Medien tragen, Interviews geben und Argumente formulieren können. Mit den neuen Medien wäre dies heute alles viel einfacher als in den 90er Jahren. Damals mussten wir schauen, dass wir Presse zu den Aktionen hinbekommen, damit sie überhaupt an die Öffentlichkeit gelangen. Heute kann man sich selbst eine Kamera schnappen.

So, wie die „Bild“-Zeitung 2009 mit Nadja Benaissa umgegangen war, hätte man zum Beispiel die Redaktion besetzen können. Natürlich wäre die Polizei gerufen worden, aber die Redakteure im Axel-Springer-Verlag hätten gemerkt: Wir lassen uns das nicht gefallen. Das konnten sie zwar auch in Stellungnahmen der Deutschen AIDS-Hilfe lesen, aber es ist etwas anderes, mit wütenden Personen konfrontiert zu werden.

 

Weitere Informationen:

Internetseite von ACT UP mit Informationen zu den aktuellen Aktionen (international)

Internetseite von ACT UP New York mit zahlreichen Dokumenten zur Geschichte und den Zielen von ACT UP.

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