Der Angstschrei
Sie steht am türkisblauen Meer, blickt in die Ferne… Vor ihr dunkles Gestein. Es drückt die Stimmung. Sie trägt ein weißes Kleid. Ihre blonden langen Haare umspielen ihren Rücken. Ihr Gesicht ist nicht zu sehen und doch weiß man, dass sie traurig ist – sehr traurig. Seltsam, wie ein Bild einen Gemütszustand darstellen kann ohne dass auch nur ein einziges Gesicht darauf zu sehen ist. Vielleicht ist es die Situation, die uns die Stimmung verrät? Doch sie steht einfach nur da, kehrt uns den Rücken zu und blickt
aufs Meer. Sie könnte auch fröhlich sein. Außer ihr, dem Meer und den Steinen ist auf dem Bild nichts zu sehen… Das ist das faszinierende an der Kunst. Alleine die Farben, die Körperhaltung, und die Stimmung die durch diese Farben gezeichnet wird, all das zeugt von Melancholie – fernab von Fröhlichkeit.
Es ist von dem Gemälde „Young Woman on the Shore“, 1896, von Edvard Munch die Rede. Edvard Munch, geboren am 12. Dezember 1863 in Norwegen, war ein Meister wie kein anderer, wenn es darum ging seine Gefühle auf Papier zu bringen. Ganze Säle tauchte er mit seinen Bildern in die Wolken der Melancholie, muntere Betrachter schmiss er in ein Meer der Nachdenklichkeit und Traurigkeit. Seine Kindheit war geprägt von Krankheit, Tod und Trauer. Edvards Mutter starb bereits im Alter von nur 33 Jahren, als er gerade fünf war. Als ob dieser Verlust nicht schon genug für den kleinen Jungen gewesen wäre, starb kurze Zeit später auch noch seine Schwester Laura. „Dann mussten wir einzeln zum Bett hingehen, und sie sah uns so merkwürdig an und küsste uns. Dann gingen wir hinaus, und das Mädchen
brachte uns zu fremden Menschen. Sie waren alle so freundlich zu uns, und wir bekamen so viel Kuchen und Spielzeug, wie wir haben wollten. Wir wurden mitten in der Nacht geweckt. Wir verstanden sofort. Wir zogen uns an, noch mit dem Schlaf in den Augen.“
Als Edvard 14 Jahre alt war, traf ihn sein nächster Schicksalsschlag. Seine ältere Lieblingsschwester Sophie verstarb an Tuberkulose. All diese Erlebnisse, dieses seelische Leid, das schon so früh tiefe Wunden in Edvards Herzen hinterließ, versuchte er in seinen Bildern auszudrücken. Er ließ die Gefühle Gestalt annehmen, ließ sie lebendig werden. Sein weltberühmtes Werk „Der Schrei“ sagt mehr als tausend Worte. „Ich ging spazieren mit zwei Freunden. Da sank die Sonne. Auf einmal ward
der Himmel rot wie Blut, und ich fühlte einen Hauch von Wehmut. Ich stand still und lehnte mich an das Geländer. Über dem blau-schwarzen Fjord und über der Stadt lag der Himmel wie Blut und wie Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter, und ich stand allein, bebend vor Angst. Mir war, als ging ein
mächtiges, unendliches Geschrei durch die Natur.“ Viele Sonnenuntergänge hatte ich schon gesehen. Am Meer, in den Bergen, in der Stadt. Rote, lila gefärbte, in sengender Hitze hinter dem Smog. Doch nie, nie hatte ich die Natur schreien gehört. Vielleicht waren es melancholische Momente, doch stets schöne Momente. Manchmal sogar so schöne, dass sie surreal wirkten.
Doch bei Edvard Munch war dies anders. Er litt an einer bipolaren Depression. Eine bipolare Depression ist durch einen episodischen Verlauf von Depression, Manie und Hypomanie gekennzeichnet. Auch gemischte Episoden können auftreten. Von vielen Künstlern wissen wir, dass sie an einer psychischen Erkrankung litten bzw. leiden, auch mehren sich die Daten, dass psychische Erkrankungen unter Künstlern häufiger auftreten. Doch wie hängt Wahnsinn und Genialität zusammen? Die Harvard Professorin Shelley Carson hat sich mit dem Thema eingehend beschäftig. Sie erklärt die Verbindung zwischen Psychopathologie und Genialität anhand eines Vulnerabilitätsmodells: auf der einen Seite der Waage liegen die Enthemmung und die neuronale Hyperkonnektivität. Die Enthemmung ermöglicht, dass viel mehr Inhalte als normal ins Bewusstsein gelangen. Dies bedeutet, dass betroffene Menschen mit mehr Problemen, Ängsten etc. zu kämpfen haben, die bei anderen im Unterbewusstsein bleiben und das Tor zum Bewusstsein gar nie durchschreiten. Die neuronale Hyperkonnektivität – wie der Name schon sagt – lässt möglicherweise mehr Assoziationen zwischen verschiedenen Stimuli zu als dies bei einem gesunden Menschen der Fall ist.
Auf der anderen Seite der Waage liegen nun die metakognitiven protektiven Faktoren, wie überdurchschnittlicher IQ, eine große Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sowie eine erhöhte kognitive Flexibilität, um die weitaus größere Menge an Stimuli die ins Bewusstsein gelangen zu verarbeiten und
gerade daraus neue kreative Ideen zu schöpfen und künstlerische Meisterwerke zu vollbringen. Sollte die positive Seite der Waage jedoch nicht in der Lage sein die negative Seite in Schach zu halten, kann dies zu einer Reizüberflutung führen und Halluzinationen oder ähnliches wie bei einem Schizophreniekranken auslösen. Auch bei Edvard Munch scheint die Waage zwischenzeitlich aus dem Gleichgewicht gekommen zu sein, denn neben der bipolaren Depression ist in der Literatur auch ein “Verfolgungswahn” beschrieben. Natürlich fragt man sich, wie ein Künstler mit einer Depression überhaupt noch im Stande ist solch weltbekannte Werke zu malen. Woher er die Kraft nahm, bei all dem Leid, das er erfahren hatte sich doch immer wieder aufzuraffen und stundenlang zu arbeiten. Wolfgang Meier, Psychiater der Universität Bonn, erklärte 2004 auf dem Petersberg-Symposium in Königswinter, dass vor allem bei einer Zyklothymie, eine Form der bipolaren Depression, der Künstler enorme Vorteile daraus ziehen kann, da ihm das hypomane Temperament die nötige Energie dazu verleiht ein neues Werk zu schaffen.
Restlos geklärt wird der Zusammenhang zwischen Wahnsinn und Genie noch lange nicht sein, aber gerade das ist es, was dieses Thema so interessant macht. Dank sei allen Künstlern, die versucht haben ihr Leid (und auch Freud) auf Papier zu bringen und somit die restliche Welt an ihrer Schönheit bereichert haben.
Literaturnachweise:
Aksikal HS et al, Creativity and affective temperaments in non-clinical
professional artists: an empirical psychometric investigation. J Affect Disord.
2011 Dec;135(1-3):28-36
Arnold, M., Edvard Munch: Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten
(Rowohlts Monographien), 1986
Carson, SH., Creativity and psychopathology: a shared vulnerability model.
Can J Psychiatry. 2011 Mar;56(3):144-53. Review.
Rothenbert, A., Bipolar illness, creativity, and treatment, PSYCHIATRIC
QUARTERLY, Volume 72, Number 2 (2001), 131-147
Das Gehirn der Kunst
Neurologie ist das Fach der Medizin, das der Kunst am nächsten kommt. Krankheiten, die das Gehirn betreffen, verändern Menschen wie ein Künstler sein Werk verändert. Manchmal genügen einzelne, feine Pinselstriche, die lange unbemerkt bleiben, bevor sich das Gesamtbild verändert.
Ein anderes Mal schlägt die Krankheit plötzlich und eiskalt zu – wie ein Sprayer, der über eine liebevoll gezeichnete Blumenwiese seinen schwarzen Totenkopf setzt. Viele weltberühmte Künstler litten an neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen. Man denke nur an Mozart, der diversen Untersuchungen zufolge mit dem Tourette-Syndrom zu kämpfen hatte. Neben ordinären Liedtexten wie “Leck mich im Arsch”- ein sechsstimmiger Kanon (KV 231)- schrieb er unzählige Werke von solcher Schönheit, dass sie kein Komponist je zu übertreffen vermag. Noten, die im Ohr zu einem Meer an Harmonie verschmelzen, die dem Zuhörer Sinn und Verstand rauben und mehr noch – die ihn zu vollkommener Hingabe zwingen.
Wozu muss ein Gehirn also fähig sein um solch einzigartige Werke zu vollbringen? Für Wolfgang Amadeus Mozart war es keine Höchstleistung, nein, vielmehr schrieb er seine Musik mit einer Leichtigkeit, von der wir beim Texte schreiben nur träumen können. Noch lange ist nicht geklärt, warum gewisse Gehirne zu solch außerordentlichen Leistungen fähig sind und andere wiederum nicht. Bewiesen ist, dass strukturelle Unterschiede im Gehirn zwischen Musikern und Nicht-Musikern umso größer sind je früher mit dem Üben eines Instruments begonnen wird. Unter anderem erscheint der Balken bei Musikern im vorderen Teil größer. Hier verlaufen die Bahnen zwischen dem rechten und dem linken motorischen Areal, welche besonders wichtig für die Koordination beider Hände sind.
Bei vielen Musikern ist eine gute Koordination Grundvoraussetzung für Erfolg. Beim Spielen einer Gitarre zum Beispiel werden von der linken und rechten Hand vollkommen´unterschiedliche Bewegungen ausgeführt – und dies gleichzeitig. Interessante Ergebnisse lieferte auch eine Studie von Peter Schneider und seiner Arbeitsgruppe von der Universität Heidelberg, in welcher bei Musikern eine Volumenzunahme der grauen Substanz der Gyri temporales transversi der primären Hörrinde – von 130% beschrieben wird. Das bedeutet, dass unser Gehirn deutlich reagiert, sich verändert, Plastizität zeigt, sobald es regelmäßig mit Musik in Verbindung tritt. Dies ist faszinierend und wunderbar zugleich.
Es ist schwierig zu begreifen, welch ausgeklügeltes System einem menschlichen Gehirn zugrunde liegt. Die Ausmaße, die es annimmt, entziehen sich sogar unseren Vorstellungen. Warum konnte Mozart bereits im Alter von nur 5 Jahren sein erstes Stück schreiben? Und warum brachten wir im Alter von 5 Jahren nicht einmal einen einzigen Ton auf der Violine hervor? Lag dies allein an seinem Vater, der ihm bereits im Alter von 4 Jahren Klavier-, Violin- und Kompositionsunterricht erteilte? Vollständig geklärt wird dies nie werden. Es laufen jedoch zahlreiche Untersuchungen an Patienten mit Williams-Beuren-Syndrom, dessen Ursache eine Deletion am Chromosom Nummer 7 ist. Diese Menschen zeigen zwar einen unterdurchschnittlichen IQ-Wert, haben aber meist eine ganz besondere Affinität zu Musik, ein sehr viel stärker ausgeprägtes Rhythmusgefühl und können Melodien, die sie nur ein einziges Mal gehört haben, oft problemlos nachspielen. Durch die Ergebnisse dieser
Untersuchungen hofft man dem Geheimnis der Musikgenies einen Schritt näher zu kommen.
Umgekehrt wiederum vermag Musik von Mozart zu heilen – wie die Sonate für 2 Klaviere in D Major KV 448. Ein festliches Meisterwerk, das vor Lebensfreude nur so sprudelt. Klar und hell schmiegen sich die Töne aneinander. Kraftvoll und doch locker und beschwingt. Dieses Stück lässt einen in Träume versinken und zufrieden lächeln. Eine Studie von Lin und Mitarbeitern aus Taiwan untersuchte den Langzeit-Effekt dieser einzigartigen Sonate an Kindern mit Epilepsie. Alle dieser Kinder waren mit mindestens 2 Antiepileptika therapiert. Zusätzlich dazu wurde den Kindern über einen Zeitraum von 6 Monaten jeweils vor dem zu Bett gehen die Klaviersonate vorgespielt. Dann wurde die Anfallshäufigkeit vor und nach diesen 6 Monaten verglichen. Der Großteil der Probanden sprach überraschenderweise positiv auf die Musiktherapie an und zeigte deutlich weniger Anfälle als zuvor.
Was bewirkt Musik also wirklich? Viele Fragen bleiben offen, doch eines ist klar: Musik macht fröhlich, Musik macht traurig, Musik lässt ungeahnte Emotionen hochkommen… Musik sagt mehr als tausend Worte…
Dr.med. Manuela Felizeter