“Hallo, Herr Doktor?”
Es ist viertel vor sechs. Mit etwas Glück schaffe ich es heute vielleicht noch rechtzeitig vor Ladenschluss zum Bäcker um frische Brötchen fürs Abendessen zu erwerben. Habe nämlich außer Keksen und Schokolade eigentlich nichts essbares mehr im Haus.
“Herr Doktor….!”
Was jetzt? Fliehen oder standhalten? Ich beschleunige meine Schritte in Richtung Ausgang und tu, als hätte ich nichts gehört.
“Eine Minute nur, Herr Doktor!”
Die Person, zu der die Stimme gehört kommt mir im Laufschritt hinterhergerannt. Ich höre sie hinter mir keuchen… ob ich es noch schaffe?
“Herr Doktor, ich weiß ja, dass Sie es eilig haben….”
Verloren! Die Person hat mich überholt und baut sich vor mir auf. Sie ist weiblich, Mitte fünfzig und ziemlich korpulent.
“Herr Doktor, es geht um meinen Vater, Herrn Ziegenhain!”
Weiß ich doch! Herr Ziegenhain ist ein richtig lieber Opa, Frau Ziegenhaintochter hingegen eine extrem nervige Nervensäge.
“Was kann ich für Sie tun?”
Kapitulation! Die Brötchen kann ich vergessen.
“…es ist wegen der Medikamente!”
Sie schaut mich erwartungsvoll an. Ich sage nichts.
“Sie wissen schon, die Antibiotika!”
Fragender Blick. Besser schweigen. Warten auf das, was noch kommt.
“Mein Vater kriegt doch Antibiotika, ja?”
“Das ist richtig!”
Immerhin hat er eine schwere Lungenentzündung.
“Ich meine nur… wir sind ja eigentlich gegen Chemie!”
Verständnisvolles Nicken. Aber lieber weiterhin erstmal nichts sagen.
“…also, er hat von mir ja Globuli bekommen…”
Das habe ich ihr erlaubt. Weiß ja bekanntlich jeder, dass da nix drin ist, also schaden die Dinger auch nix.
“…außerdem ist das Fieber ja schon runtergegangen!”
Was mich sehr freut. Unsere Therapie hat also angeschlagen.
“…Sehen Sie, Homöopathie wirkt eben doch!”
Sie grinst maliziös. Darf ich anmerken, dass ich anderer Meinung bin? Aber jetzt bitte keine Grundsatzdiskussionen!
“Was wollen Sie?”
“Ich verlange, dass die Antibiotika sofort abgesetzt werden!”
Damit Opa wieder auffiebert? Und ich mir am Ende noch so richtig fiese resistente Keime züchte? Kommt nicht in Frage! Aber ich mag jetzt wirklich keine Grundsatzdiskussionen! Scharf nachdenken…. und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen!
“Frau Kollegin!”
Frau Ziegenhaintochter ist nämlich Heilpraktikerin.
“Frau Kollegin, darf ich Ihnen einen anderen Vorschlag machen?”
Ich bemühe mich um einen verbindlich-gewinnenden Gesichtsausdruck.
“Frau Kollegin, wie wäre es….”
Immerhin, sie lächelt gebauchpinselt!
“….wie wäre es, wenn wir die Antibiotika noch ein paar Tage lang weitergeben und Sie leiten es dann homöopathisch aus?”
Händedruck. Nicken. Umdrehen und ab durch die Mitte. Der Bäcker hat schon zu, aber im Supermarkt kriege ich vielleicht noch abgepacktes Brot!