(P. Köhler) Beeindruckend ist vor allem das immense Wissen des 42jährigen Onkologen über die jüngere und jüngste Wissenschaftsgeschichte in seinem Fachgebiet, der internistischen Onkologie, seit dem Jahr 1947, in dem Sidney Farber das Aminopterin einführte, bis zu den small molecules und spezifischen Antikörpern des letzten Jahrzehnts. So etwas kann man sonst nirgendwo nachlesen, Mukherjee hat es erarbeitet in zahllosen Reisen und Interviews mit den noch lebenden Wissenschaftlern, Ärzten, und Patienten.
Die Geschichte wird chronologisch erzählt mit vielen Vor- und Rückgriffen, um beim Leser nach und nach auch eine systematische Kenntnis über die aktuelle Theorie der Krebszelle aufzubauen. Sie enthält viele home stories und Vignetten zur Persönlichkeit der Forscher und der Betroffenen… ähnelt darin Vorläufern wie Thorwalds "Jahrhundert der Chirurgen", ohne aber deren unangenehme Hagiographie zu imitieren. Im Gegenteil beschreibt Mukherjee auch die Schattenseiten und Tiefpunkte der Medizin, wie etwa Halstedts sinnlos radikale Operationstechniken oder Bezwodas gefälschte Erfolge der Hochdosis-Chemotherapie.
Die Kapitelfolge könnte etwas klarer strukturiert und benannt sein, die Epigraphe wirken auf mich übertrieben eingesetzt, die Bebilderung ist sehr spärlich, aber das sind unwesentliche Details. Für medizinische Laien entsteht jedenfalls ein farbenfrohes Bild des Wissenschaftsbetriebes und der (US-amerikanischen) Wissenschaftspolitik im 20. Jahrhundert. Auch Fachleuten werden viele Details neu sein – nicht jeder klinische Onkologe kennt die Laskeriten oder weiß auf Anhieb, wofür das "neu" in der Bezeichnung des Brustkrebs-Onkogens Her2/neu steht.
Weniger informativ bleibt das Buch bei der historischen und modernen Chirurgie, die meist nur beleuchtet wird, wenn sie als Kritiker und Gegner der Chemotherapie auftritt. Strahlentherapie und Psychoonkologie, beides Standpfeiler jeder modernen Krebstherapie, werden überhaupt nur flüchtig gestreift. Das ist schade, tut dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch, denn Mukherjee entschädigt durch tiefe und persönliche Einblicke in das Erleben seiner Patienten.
Dieses Werk sollte in keinem onkologischen Zentrum fehlen – weder in der Ärzte-, noch in der Patientenbibliothek. Siddhartha Mukherjee: Der König aller Krankheiten. Dumont 2012. 670 Seiten Hardcover, 26.- Euro. ISBN 978-3-8321-9644-8