Dossier HIV & Strafrecht | „Gerichte ignorieren Diskriminierungen“

Portrait Jacob Hösl

„Versuchen Sie doch mal, als HIV-positive Frau einen Partner zu bekommen" (Foto: Archiv)

Jacob Hösl (48) ist Rechtsanwalt in Köln und einer der bekanntesten Spezialisten für die Rechtsprechung zu HIV und Aids. aidshilfe.de sprach mit ihm nach einer Podiumsdiskussion der Lübecker Aids-Hilfe

Herr Hösl, Sie kritisieren, dass die deutsche Rechtsprechung in Sachen HIV eine Sonderrechtssprechung ist. Gelten für HIV eigene Gesetze?

Nein, aber HIV ist insofern eine Sonderrechtsprechung, als die Gerichte bestimmte Rechtsprechungsgrundsätze für HIV neu definiert haben. Es steht einem Gericht zu, die Gesetze auszulegen – das müssen die Gerichte auch! Aber man kann bei HIV beobachten, dass ganz fundamentale Grundsätze über den Haufen geworfen wurden, um diese Fälle zu erfassen. Andernfalls hätte man sie gar nicht verurteilen können.

Können Sie einen Fall nennen, wo man das Recht besonders auslegen musste, um einen HIV-Positiven zu verurteilen?

Das Fundament für die Sonderrechtsprechung in Sachen HIV wurde schon in der ersten Entscheidung des Bundesgerichtshof gelegt, …

… am 4. November 1988 …

Die Lüge gehört zum Sex so wie das Salz in die Suppe.

… der wesentliche Punkt war damals die Auslegung der HIV-Übertragung als „eine das Leben gefährdende Behandlung“. Da hat die Rechtsprechung früher immer gesagt: Es kommt auf die Gefährlichkeit der Handlung an – sprich: die Handlung als solche muss gefährlich sein. Der Erfolg aber, also das, was aus der Handlung entstehen kann, war nicht das Kriterium für die Beurteilung dieses Tatbestandsmerkmals. Dies sei aber bei HIV anders, so wurde es ausdrücklich in dem Urteil verkündet. Bei HIV komme es nicht auf die Gefährlichkeit der Handlung an, sondern es komme auf die Gefährlichkeit des Erfolges an. Dabei hat die sexuelle Handlung als solche, auch wenn man kein Kondom verwendet, kein sehr hohes statistisches HIV-Übertragungsrisiko. Das Urteil von 1988 steht im Gegensatz zur ständigen Rechtsprechung davor und danach. Es wird auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies nur bei HIV gelte.

Das lag sicher auch daran, dass Aids in den 1980er neu war und sehr bedrohlich wirkte. Fällt Ihnen ein Beispiel aus der Rechtsgeschichte ein, wo eine neue Krankheit die Gemüter ähnlich bewegt hat? So dass die Justiz meinte, sie müsse in diesem Fall besonders hart urteilen?

Nach meiner Kenntnis gibt es in der Rechtsgeschichte bisher überhaupt keine sexuell übertragbare Erkrankung, die jemals Gegenstand einer solchen juristischen Aufarbeitung war. Dieses Phänomen ist neu, und es ist – wenn man so möchte – an HIV entwickelt worden. Früher wäre man gar nicht darauf gekommen, damit vor Gericht zu gehen. Oder man hat es als gottgegeben hingenommen, dass man sich mit Krankheiten infizieren kann.

Früher wäre man gar nicht darauf gekommen, damit vor Gericht zu gehen

In einem Interview hat mir ein Mann davon erzählt, warum er seinen früheren Lebenspartner verklagt hat. Seine Begründung war: Obwohl sie über das Thema HIV gesprochen hätten, habe der Partner seine Infektion nie erwähnt. Für diese Unaufrichtigkeit solle ihn die Justiz zur Verantwortung ziehen. Ist der Staatsanwalt dafür der richtige Ansprechpartner?

Ich sage mal eingangs: Die Lüge gehört zum Sex so wie das Salz in die Suppe. Sex ohne Lüge existiert nicht. Nun wird die Lüge beim Sex bestraft – aber eben nur bei HIV. Sonst nicht. Wenn man die Entscheidungen liest, die Gerichte in Deutschland fällen, kann man an den Begründungen eines sehr deutlich erkennen: Das Unerhörte, was in solchen Fällen den Impuls nach Ahndung auslöst, das ist im Grunde die Lüge, die Unaufrichtigkeit. Man erwartet von einem HIV-positiven Menschen, dass er sich offenbart. Das spielt bei allen Entscheidungen eine Rolle.

Ist das zuviel verlangt?

Natürlich darf das angesichts einer lebensbedrohlichen Infektionserkrankung nicht bagatellisiert werden, aber ich denke, dass man sich folgende Frage stellen muss: Weshalb kann ein HIV-Positiver in solchen Situationen nicht offen über seine HIV-Infektion sprechen? Der Grund hierfür liegt nicht nur bei ihm selbst. Die Gerichte ignorieren zumeist, dass Menschen mit HIV in unserer Gesellschaft starken Diskriminierungen ausgesetzt sind und dass dies auch bis in die intime soziale Privatsphäre reicht. Hierzu trägt auch die generelle Kriminalisierung bei. Es müssen andere Wege der Konfliktlösung in solchen Fällen diskutiert werden.

Immerhin verschafft ein solches Urteil dem Kläger Genugtuung…

Sobald sich HIV-positiv offenbaren, müssen sie Angst haben, ihren Partner zu verlieren.

Nein. So wie bei Opfern von körperlicher Gewalt hilft ihnen vor allem die seelsorgerische oder psychosoziale Betreuung. Doch die bleibt bei einem Gerichtsverfahren in der Regel außen vor. Es wird so getan, als würde die Verurteilung des Täters gleichsam die Heilung oder zumindest die Verbesserung der Verletzung herbeiführen. Aber das ist ein Irrtum.

Warum?

Dazu ein kleines Beispiel. Ich hatte 2011 eine Verhandlung in Rheinland-Pfalz. Die Geschädigte war todunglücklich, dass sie nochmals als HIV-Positive ins Rampenlicht treten musste: Sie verstände gar nicht, warum sie in ihrem Prozess als Zeugin auftreten müsse. Dabei sagte sie den bedeutsamen Satz: „Versuchen Sie doch mal, als HIV-positive Frau einen Partner zu bekommen, wenn Sie ihm das offenbaren.“ Die Geschädigte beschrieb damit genau jene Befürchtung, die auch die sogenannten Täter dazu bringt, ihre Krankheit zu verschweigen: Sobald sie sich als HIV-positiv offenbaren, müssen sie Angst haben, ihren Partner zu verlieren.

Interview: Philip Eicker

Für die Deutsche AIDS-Hilfe hat Jacob Hösl alle Urteile in Sachen HIV seit 1987 zusammengestellt und kommentiert. Die Urteilssammlung kann hier abgerufen werden

 

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