Dossier HIV & Strafrecht | „Glamour-Krankheit“ vor Gericht

Portrait Susan Sontag

Autorin Susan Sontag "Aids und seine Metaphern" (Foto: DAAD)

HIV ist die einzige Infektion, die regelmäßig zur Streitsache in Strafprozessen wird. Warum ist das so? Aufschlussreiche Antworten liefert ein alter Essay von Susan Sontag, der kaum an Aktualität eingebüßt hat

Das Meinungsbild ist eindeutig: Wer HIV-positiv ist, darf nur mit Kondom. Ungeschützter Sex muss bestraft werden – es sei denn, der Partner hat ausdrücklich zugestimmt. Im Sensationsprozess gegen die Sängerin Nadja Benaissa, die 2010 wegen der Ansteckung eines Sexpartners verurteilt wurde, waren sich fast alle Meinungsmacher einig, von der Frauenzeitschrift Brigitte bis zum Rechtswissenschaftsportal Legal Tribune: Die Verantwortung für die Virusübertragung lag allein bei der positiven Frau. Ihr mehrmaliger Sexpartner dagegen durfte darauf vertrauen, dass seine Partnerinnen frei von HIV sind. Die Kondompflicht gilt nur für Positive.

Ungeschützter Sex muss bestraft werden

Dabei ist das als gerecht empfundene Verfahren gar nicht so selbstverständlich. Denn HIV ist ein Sonderfall: Keine andere Infektionskrankheit wird so häufig vor Gericht verhandelt. Wann haben sich Staatsanwälte zuletzt auf eine Syphilis-Übertragung gestürzt? Kein Fall bekannt. Dabei drohen auch bei dieser sexuell übertragbaren Krankheit ohne Behandlung schwere Gesundheitsschäden [http://aidshilfe.de/de/sich-schuetzen/sexuell-uebertragbare-infektionen/syphilis]. Doch die Syphilis reicht weder für mediale Empörung, noch kommen Betroffene auf die Idee, deswegen Anzeige zu erstatten.

Der entscheidende Unterschied: Anders als Syphilis ist Aids noch immer eine „Glamour-Krankheit“, wie Susan Sontag sie 1989 in ihrem berühmten Essay „Aids und seine Metaphern“ genannt hat (Originaltitel: „AIDS and Its Metaphors“). Es lohnt sich, den Text der berühmten amerikanischen Publizistin (1933–2004) nach über 20 Jahren noch einmal zu lesen. Weil er zu verstehen hilft, warum ein Fall wie jener Benaissas für Furore sorgt. Und weil er daran erinnert, in was für einer aufgeheizten Atmosphäre Aids in den 1980er Jahren diskutiert wurde.

„Epidemien lösen immer einen Aufschrei gegen Toleranz aus“

Angesichts einer unbekannten, tödlichen Krankheit schien es naheliegend, für HIV eigene Rechtsnormen zu schaffen, um eine Epidemie zu verhindern. Sontags Essay vermittelt einen guten Eindruck von den damals diskutierten Kontroll- und Strafmaßnahmen. Gute Worte allein, so ein verbreiteter Eindruck, reichten nicht mehr. „Epidemien lösen immer einen Aufschrei gegen Großzügigkeit oder Toleranz aus, die nun als Laxheit, Schwäche, als ungesund gelten“, stellte Sontag fest. „Es wird gefordert, die Menschen ,Tests‘ zu unterwerfen, die Kranken zu isolieren und Barrieren gegen die imaginäre Verseuchung durch Ausländer zu errichten.“

Vergeltung für einen sexuell ausschweifenden Lebenswandel

Sontag weist nach, dass auch Krankheiten einer Mode unterliegen. So wie Aids im 20. Jahrhundert sorgte ab dem 16. Jahrhundert die Syphilis für Entsetzen. In ähnlichen Metaphern, also sprachlichen Bildern, wurde die Geschlechtskrankheit als gerechte Vergeltung für einen sexuell ausschweifenden Lebenswandel gedeutet.

Anders als in der frühen Neuzeit wurde Aids, die Seuche des 20. Jahrhunderts, allerdings nur selten als göttliche Strafe gedeutet. Die „archaische Idee einer verdorbenen Gemeinschaft, die dem Gottesurteil der Krankheit verfallen ist“, hat sich laut Sontag allerdings bis in unsere Gegenwart gerettet. Nur nutzten Mediziner und Soziologen heute die neutral klingende, bürokratische Kategorie der „Risikogruppe“. So wie die Cholera im 19. Jahrhundert als „Strafe für die Nichtbefolgung der sanitären Gesetze“ und daher als „Fluch der Unreinlichen“ kategorisiert wurde (New York Times, 1866), gelte heute der Stauts „HIV-positiv“ als Stigma für die Sorglosen, die wider besseres Wissen nicht aufgepasst haben. „Krankheit als Strafe für begangene Schuld zu begreifen, ist der älteste Versuch, die Ursache von Krankheit zu erklären“, betont Sontag. Und, so kann man hinzufügen: Wo es Schuldige gibt, muss der Staatsanwalt einschreiten.

Die Abgrenzung zwischen „Tätern“ und „Opfern“ verlangt nach einem Richter

Verstärkt wird diese Schuldzuweisung durch die Tatsache, dass es sich bei HIV um ein Virus handelt, das vor allem durch sexuelle Kontakte weitergegeben wird. Das erleichtert die Einteilung in moralische Kategorien: Hier Unschuldige, z.B. Kinder, die noch keinen Sex haben, aber auch die „Allgemeinbevölkerung“ – dort die tatsächlichen oder mutmaßlichen Überträger der Krankheit, z.B. Angehörige einer „Risikogruppe“. „Aids gilt wie Syphilis als eine Krankheit ,des anderen‘, die man nicht hat, sondern sich holt“, so Sontag. Dass in den reichen Staaten vor allem homosexuelle Männer von HIV betroffen sind, erleichtere die Abgrenzung zusätzlich. Daran hat sich seit der Veröffentlichung von Sontags Aufsatz nicht viel verändert. Analverkehr hat noch immer keinen guten Ruf. „Aids durch so eine Praktik anstatt durch einfache (sic!) Sexualität zu bekommen, gilt als mutwilliger und daher als besonders fahrlässig“, fasst Sontag nüchtern zusammen.

Analverkehr hat noch immer keinen guten Ruf

Diese Abgrenzung zwischen „Tätern“ und „Opfern“ von HIV-Infektionen begünstigt die – in unserer verrechtlichten Gesellschaft ohnehin starke – Tendenz, nach einer Ansteckung mit dem HI-Virus den Rechtsweg zu beschreiten. Verstärkend wirken die in den 1980er Jahren in vielen Ländern geschaffenen Seuchenschutzgesetze, die als „Lex Aids“ einem wissentlich HIV-positiven Menschen mit Strafe drohen, falls er sich beim Sex nicht als solcher zu erkennen gibt oder Schutzmaßnahmen ergreift. Ein großer Teil der strengen Urteile, die in den 1980er Jahren gefällt wurden, dürfte auch schlicht Ausdruck der Hilflosigkeit gewesen sein: Da Wissenschaft und Gesundheitssystem der neuen Epidemie nahezu machtlos gegenüberstanden, bemühte sich zumindest die Justiz, diese staatliche Funktionslücke zu füllen.

Eine gute Nachricht: Aids wird banal

Die Katastrophenstimmung der 1980er Jahre ist zum Glück verflogen. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es wirksame HIV-Therapien, aus der bedrohlichen „Schwulenpest“ mit dem Zeug zur Pandemie wurde – zumindest in den reichen Industriestaaten – eine gut behandelbare chronische Krankheit. Es scheint fast so, als geschehe mit HIV allmählich das, was Susan Sontag 1989 für die Krankheit Krebs feststellen konnte: Sie wird banalisiert. „Krebs zu bekommen gilt nicht mehr als Stigma, als Auslöser einer ,beschädigten Identität‘. Das Wort Krebs wird unbefangener ausgesprochen.“

Aids: Eine Krankheit ohne ,Bedeutung‘

Susan Sontag, selbst krebskrank, betrachtete diese Entwicklung mit Genugtuung. Bereits 1978 hatte sie sich gegen die moralische Aufladung einer medizinischen Tatsache verwehrt und in ihrem Aufsatz „Krankheit als Metapher“ dagegen angeschrieben (Originaltitel: Illness as Metaphor). Sie widersprach darin der damals populären These, Krebs sei weniger als Krankheit, sondern als Metapher zu verstehen. Im Zuge dieser Debatte entstand auch das Bild von „Krebstypen“, die nicht in der Lage seien, ihre Gefühle angemessen auszudrücken und so letzten Endes ihr Leiden selbst hervorriefen.

Als die Aids-Debatte begann, war Sontag also argumentativ gut vorbereitet. Leidenschaftlich plädierte sie dafür, auch eine (damals) unbehandelbare Krankheit wie Aids nicht moralisch zu deuten und so den Infizierten und Erkrankten zusätzlich zu ihren körperlichen und seelischen Lasten auch noch eine Verantwortung für die Krankheit aufzubürden. Menschen sollten Krebs wie auch HIV „einfach als Krankheit betrachten lernen – eine ernste Krankheit, aber eben eine Krankheit, weder Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne ,Bedeutung‘“.

Philip Eicker

Zum Nachlesen: Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, Fischer Taschenbücher, 2005

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