Geschlechterlücke durch radioaktive Strahlung?

(P. Köhler) Das würde bedeuten, dass die Wirkung von ionisierender Strahlung auf das menschliche Erbgut um drei Größenordnungen stärker ist als bisher angenommen; die UNSCEAR- und ICRP-Veröffentlichungen wären grob falsch und unterschätzten die Gefahr um das Tausendfache.

Vor einigen Tagen griffen die Medien eine Pressemitteilung der Deutschen Umwelthilfe auf, die ihrerseits  eine Gruppe deutscher Epidemiologen zitiert: Es werden dort, wo solche Strahlungsquellen existieren, etwa in der Umgebung von Tschernobyl oder Gorleben, tendenziell weniger Mädchen geboren. Dies sei, möglicherweise die Folge einer Schädigung der Erbsubstanz auf den X-Chromosomen, die weibliche Embryonen stärker treffe als männliche.
Das zugehörige Paper ist bereits vor einem Jahr in der Zeitschrift ”Environmental science and pollution research international” erschienen und stammt von den Biostatistikern Hagen Scherb und Kristina Voigt vom Helmholtz-Zentrum München (Scherb H, Voigt K. The human sex odds at birth after the atmospheric atomic bomb tests, after Chernobyl, and in the vicinity of nuclear facilities. Environ Sci Pollut Res Int. 2011 Jun;18(5):697-707).

Trotz der renommierten Quelle stiess das Paper bei Fachleuten auf einhellige Ablehnung (z.B. Walter Krämer, Francois Bochud, Bundesamt für Strahlenschutz der Schweiz). Zusammengefaßt: Die Daten stützten Scherbs und Voigts  Interpretation nicht, insbesondere lägen alle beobachteten Veränderungen des Geschlechtsverhältnisses innerhalb der natürlichen Schwankungsbreite.
Es sieht wirklich so aus, als ob die Autoren lineare Fits in die Datenwolken der verschiedenen Länder/Regionen gezeichnet und erst dann zu den Trends passende Strahlenereignisse gesucht haben (sogenanntes data-fishing). Wenn das stimmt, wären ihre Ergebnisse tatsächlich wertlos.

Beispielsweise korreliert der Jungenüberschuß in den USA nicht besonders gut mit dem Fallout von überirdischen Atombombenversuchen (siehe Abb.). Nach dem Teststopp 1963 sinken die Konzentrationen der Radionuklide in der Atmosphäre, der Jungenüberschuß jedoch nicht; im Gegenteil nimmt er noch einige Jahre lang zu. Scherb und Voigt erwähnen also eine “gewisse Verzögerung” (”a certain delay”), mit der der Teststopp genutzt habe. – Merkwürdig ist nur, dass die Mädchenlücke in Russland genau ab dem Katastrophenjahr 1986 auftaucht, ohne jede Verzögerung.
Das wirkt auf mich tatsächlich arbiträr und reduziert die Glaubwürdigkeit von Scherbs und Voigts Kernaussage immens.
[Grafiken: Krämer 2011, Hokanomono/Wikipedia]

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