Placebotherapie mit Grenzen!

Noch ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Christian Mang, Mainz
Meine erste Erfahrung damit hatte ich während meines Studiums! Ich musste lernen und dann plötzlich: Kopfschmerzen! Verdammte Kopfschmerzen! Nun, es musste aber weitergelernt werden, da half alles nichts! Also ging ich in die Küche, suchte die Packung mit Schmerztabletten! Nur noch zwei! Das musste reichen für heute! Ich drückte eine Tablette Thomapyrin aus der Blisterpackung, suchte mir etwas zu trinken, um die Tablette einzunehmen und wartete danach ab. Tatsächlich, nach einer halben Stunde wurden die Kopfschmerzen weniger und nach 45 Minuten war ich wieder wie neu! Mit dem Lernen konnte es weiter gehen!
Alles soweit wunderbar! Neben mir lag auf dem Schreibtisch die Blisterpackung. Eine Tablette war ja zum Glück noch da, falls ich sie brauchen würde.

Stunden später gehe ich in die Küche und stelle einen gebrauchten Teller in die Spüle! Und da die Überraschung! Auf dem Rand der Spüle lag noch die Schmerztablette von heute Mittag! Als ich nach der Wasserflasche gegriffen hatte und ein Glas aus dem Schrank holte, hatte ich offensichtlich die Tablette auf die Spüle gelegt, anstatt sie einzunehmen! Aber die Nichteinnahme hatte prima gewirkt! Ich war völlig unvoreingenommen einem Placeboeffekt erlegen! Konnte so etwas funktionieren? Ja, offensichtlich, ja! Ich war ja völlig beschwerdefrei geworden…

Nach einigen Jahren war ich Assistenzarzt und musste logischerweise auch Nachtdienste absolvieren. Ich arbeitete tagsüber auf einer pulmologischen Station! Man kannte die Patienten mit der Zeit recht gut, denn die Liegezeiten auf dieser Station waren nicht gerade kurz! Immer wenn ich tagsüber Visite machte, las ich in den Nachtberichten, dass Herr K. fast jede Nacht einen schweren Asthmaanfall hatte und dass er daraufhin vom jeweiligen Nachtdienst stereotyp hochdosiert drei i.v.-Spritzen verabreicht bekommen hatte mit einem Beta-2-Mimetikum, einem Theophyllin (beides zur Erweiterung der Luftwege) und einem Corticoid zur Unterdrückung des entzündlichen Geschehens! Die wiederkehrende Corticoid-Therapie hinterließ natürlich Spuren, der Patient entwickelte ein Cushing-artiges Aussehen und eine Steroid-Akne am gesamten Oberkörper!

Eines Nachts wurde ich im Notdienst auf meine eigene Station gerufen! Herr K. hatte seinen nächtlichen Anfall! Wir wussten, dass in der Lungenfuktionsprüfung seine Asthmaanfälle echt waren, er täuschte die Atmennot nicht vor! Trotzdem kam mir irgendetwas merkwürdig vor! Mein Instinkt sagte mir, dass mit dieser Regelmäßigkeit der Anfälle etwas seltsam war. Ich gab der Schwester, die mir auf dem Flur begegnete mit den erwähnten drei Spritzen, die Anweisung, die Spritzen auf die Seite zu legen und mir noch einmal drei neue Spritzen zu holen, die aber allesamt Kochsalzlösung enthalten sollten!
Ich betrat das Patientenzimmer und ließ mir von der Schwester die drei Placebospritzen nacheinander anreichen! Fraktioniert spritzen, immer wieder den Patienten fragen, ob er eine Wirkung spüre, und abwarten. Der Patient, der vorher mit hoch aufgerichtetem Körper keine Luft mehr ausatmen konnte, schaute mir zu, während ich die Spritzen immer wieder ein bisschen drückte und er merkte die kühle Flüssigkeit in seiner Vene. Nach einigen Minuten hatte er die exakt gleiche Rückbildungsphase seiner Atemnot unter Anwendung von Kochsalzlösung, als hätte ich ihm hochdosiert das Betamimetikum, das Theophyllin und das Corticoid in die Vene verabreicht! In dieser Nacht gab es auch keine weiteren Besonderheiten mehr.
Ich besprach das Vorkommnis mit dem Oberarzt am nächsten morgen und wir kamen zu dem Schluss, dass wir dem Patienten darüber nichts sagen würden: Zu groß war unsere Angst, dass er zukünftig evtl. denken würde, dass die Spritzen, die wir ihm im Notfall geben müssten, keinen Wirkstoff enthalten würden, selbst wenn wir ihn mit Verum behandeln würden. Wir wollten nicht riskieren, dass unsere echten Wirkstoffe durch eine Panikreaktion evtl. schlechter wirken würden. Wir waren allerdings ratlos, woher diese nächtlichen Anfälle aus dem Nichts heraus entstanden. Die meisten diensthabenden Kollegen gaben nach dem Notfallschema natürlich immer wieder die oben erwähnte Kombi stark wirksamer Arzneistoffe. Wir konnten ja keine Anweisung erlassen, dass der Patient nur noch mit Kochsalz zu behandeln sei, dazu ist ein Status asthmaticus zu ernst!

Der Station angegliedert war ein Schlaflabor und Herr K. musste eines Tages mit seinem Bett für eine Nacht lang in eines dieser Schlaflaborzimmer gefahren werden, denn er war Türke und die Schwestern hatten einen Kurden zu ihm ins Zimmer gelegt, was zu solchen Auseinandersetzungen führte, dass wir die beiden trennen mussten! Und zum Glück gab es Zivis! Die Zivis hatten trotz Ihrer Dienstanweisung nicht mehr die Geräte im Schlaflabor kontrolliert und so war in dieser Nacht unbemerkt geblieben, dass die Video-Langzeitaufzeichnung noch lief! Keiner hatte das bemerkt, bis am nächsten Tag jemand, der die Messungen der Woche auswerten wollte, bemerkte, dass eine aktuelle Aufzeichnung vorlag: Eine Nacht von Herrn K., der in dieser Nacht wiederum einen seiner schweren Asthmaanfälle „erlitten“ hatte.
Und was man dann sah, verschlug uns die Sprache… Herr K. war nachts aufgestanden und man konnte gut erkennen, dass er sich an seinem Bett zu schaffen machte! Der arme kranke Herr K. hob plötzlich ca. 25 Mal sein schweres Krankenbett an, was ihn sichtlich belastete. Und siehe da, unter dieser Belastung fing er an zu keuchen, dann zu röcheln und entwickelte einen Asthmaanfall! Er drückte die Notfall-Klingel und legte sich mit Atemnot ins Bett. Kurz danach kam die Schwester ins Zimmer und die nächtliche Notfall-Behandlungskaskade kam in Gang! Auf dem Video war zwar nachweisbar, dass Herr K. in seiner längeren Krankengeschichte offensichtlich herausgefunden hatte, dass er mit körperlicher Anstrengung ein Belastungsasthma auslösen konnte und dies zur Provokation der Anfälle ausnutzte! Aber was tun! Wir konnten und durften ihn damit nicht konfrontieren, denn unsere Videoaufnahme war im strengen juristischen Sinne illegal! Ohne das Wissen eines Patienten dürfen keine Aufzeichnungen gemacht werden.

Um die Geschichte aufzulösen: Wir telefonierten ein wenig herum und erkundigten uns in den umliegenden Krankenhäusern. Herr K. war auch dort kein Unbekannter! Immer wieder war er mit Asthma-Anfällen stationär aufgenommen worden! Wir fanden heraus, dass der 52-jährige einen Frühberentungs-Antrag gestellt hatte, der zunächst abgelehnt worden war. Was folgte waren wochenlange wiederkehrende stationäre Aufenthalte und immer wieder Arbeitsunfähigkeit!

In einem Gespräch vermittelten wir Herrn K., dass wir Hinweise darauf hätten, dass er an seinen Asthmaanfällen nicht unschuldig war. Wir durften natürlich nicht sagen, warum wir dies vermuteten. Nach diesem Gespräch sahen wir Herrn K. in unserer Notaufnahme nie mehr!

Einige Wochen später war ich in der weiter entfernteren Nachbarstädte zu Fuß unterwegs, es war ein frostiger, sehr kalter Januartag! Und ich dachte, ich traue meinen Augen nicht! Herr K. saß in der Innenstadt in der Fußgängerzone auf einer Bank! Er trug allerdings nur eine ganz dünne Trainingsjacke, die Vorderseite war geöffnet und nur ein T-Shirt trennte ihn von der Kälte! Mir schoss durch den Kopf, dass er evtl. inzwischen vielleicht herausgefunden hatte, dass auch Kälte massive akute Asthmaanfälle auslösen kann.
Wie es dann letztlich mit ihm weiterging, darüber kann man nur spekulieren! Es liegt nahe, dass er mit viel Geduld und Mut zur Selbstgefährdung durch seine immer wieder ausgelösten Notfallsituationen irgendwann dann doch noch seinen Frühberentungs-Antrag „durchsetzen“ konnte…

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *