„Seit dem Strafverfahren bin ich vom Kopf her tot“

Der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" kommt nicht immer zum Tragen. Foto: Florentine, pixelio.de

Nach wie vor werden in Deutschland Menschen mit HIV verurteilt, nachdem es beim Sex zu einer Übertragung des Virus gekommen ist – manchmal sogar dann, wenn nur die Möglichkeit dazu bestanden hat („HIV-Exposition“), ohne dass tatsächlich eine Ansteckung erfolgte. Die Deutsche AIDS-Hilfe hat im März 2012 ein Positionspapier veröffentlicht, das ein Ende dieser Praxis fordert. Wie sich diese Kriminalisierung von Menschen mit HIV auswirkt, hat Bernd Aretz in Interviews erforscht. Im d@h_blog veröffentlichen wir seine Beiträge, die er auf der Grundlage dieser Gespräche geschrieben hat:

Seit Jahren ist die zunehmende Tendenz zu beobachten, dass Unterhalts-, Sorgerechts- oder vermögensrechtliche Konflikte bei der Ehescheidung nicht nur vor dem Familiengericht ausgetragen, sondern durch Strafanzeigen wegen häuslicher oder sexueller Gewalt untermauert werden. Meist gibt es keine Zeugen, und die Sichtweisen der Beteiligten weichen deutlich voneinander ab. Der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ kommt angesichts der sich widersprechenden Aussagen nicht zum Tragen, wenn die Richter der einen Partei Glauben schenken und von der anderen meinen, dass sie lügt. Verurteilungen sind also durchaus möglich.

Wehe dem, der auf seiner Unschuld beharrt, ohne das Gericht überzeugen zu können

Das unverzichtbare Recht des Anklagten, zu lügen, zu schweigen und nichts zur Klärung eines Sachverhalts beizutragen, ohne deswegen Nachteile zu erleiden, hat schon lange dem Straf- und Belohnungsprinzip für prozessökonomisches Verhalten des Angeklagten Platz gemacht. Wohl dem, der durch sein Geständnis dem Gericht viel Mühe und Arbeit erspart: Ihm wird zur Belohnung eine Bewährungsstrafe in Aussicht gestellt. Wehe dem, der auf seiner Unschuld beharrt, ohne das Gericht überzeugen zu können: Seine Bockigkeit wird ihm durch eine höhere Strafe heimgezahlt. Meist treffen solche Verfahren Menschen, die im Umgang mit der Justiz keine Erfahrung haben, von der Sprache der Juristen völlig überfordert sind und kaum begreifen, was da mit ihnen geschieht.

So ging es dem 48-jährigen Wolfgang N., einem Berufskraftfahrer. Die Geschichte des heterosexuellen Mannes ist schnell erzählt: Bei einem Fest ergab sich eine sexuelle Begegnung mit einer Frau, nennen wir sie Elke. Die Verhütung war scheinbar über die Pille geregelt, über HIV oder andere sexuell übertragbare Infektionen wurde nicht gesprochen. Das spielte bisher in seinem Leben keine Rolle. Nach einem Vierteljahr hörte er von Freunden, es gebe Gerüchte, dass Elke infiziert sei. Wolfgang ließ sich testen, und das Ergebnis war positiv. Seine Versuche, mit Elke ein klärendes Gespräch zu führen, scheiterten. Elke war für ihn abgetaucht. „Natürlich war ich sauer, dass sie nicht offen mit mir umgegangen war“, erzählt er.

Über HIV wurde nicht gesprochen. Foto: Marcus Stark, pixelio.de

Das alles war 1992. Er lebte damals von seiner ersten Ehefrau Maria getrennt, hatte aber mit ihr noch ein so gutes Verhältnis, dass er ihr von seiner HIV-Infektion erzählte und über ein Jahr lang gemeinsam mit ihr versuchte, Kontakt mit Elke zu bekommen. Vergeblich. Danach hat er sich mit dem Unvermeidlichen als schicksalhaft abgefunden. Heute versteht er, dass Elke sich vielleicht aus Angst vor Zurückweisung nicht getraut hat, ihn zu informieren. Auch er hat sich nach dem Test erst einmal für Jahre aus dem sexuellen Leben zurückgezogen. Es gab zwar immer mal wieder Kontakte zu Frauen, aber wenn sich aus dem Gespräch ergab, dass sie, wie er es nennt, „gesund“ waren, hat er sich aus Scham zurückgezogen. Er hat zwar mit seinen Eltern, Geschwistern, dem engen Freundeskreis und seiner Exfrau Maria über die Infektion gesprochen, aber mit anderen Menschen konnte er das noch nicht. Das ging nur auf der Grundlage bewährter und für ihn einschätzbarer Beziehungen.

Während des Scheidungsverfahrens erstattete sie gegen ihn Strafanzeige

1997 lernte er seine spätere zweite Ehefrau Gundula kennen. Er erzählte ihr von seinem Beruf als Fernfahrer und dass er meistens unterwegs sei, sie berichtete vom Klinikalltag als Krankenschwester und dass sie dort häufig Kontakt zu Aidspatienten habe. Ab hier gibt es zwei Versionen der weiteren Geschichte. Gundula erklärte später, von seiner HIV-Infektion nichts gewusst zu haben, er sagt, dass Gundula die erste Frau gewesen sei, mit der er offen reden konnte und für die HIV kein Hindernis für eine Beziehung darstellte. Sie habe – mit Rücksicht auf ihre Kinder aus erster Ehe – den Wunsch gehabt, die Infektion gegenüber ihrem Freundeskreis und der Familie geheim zu halten. Sie zogen zusammen, heirateten 2000 und zogen nach Norddeutschland in ein eigenes Haus.

Die Gerichte glaubten, Wolfang habe seine Infektion verschwiegen. Foto: Michael Grabscheit, pixelio.de

Bis 2003 gab es für Wolfgang keinen Anlass, seinen Gesundheitszustand durch einen HIV-Spezialisten überwachen zu lassen. Aber dann erkrankte er ernsthaft, lag drei Monate in der Klinik, musste seinen Beruf aufgeben. Die Familie geriet in eine finanzielle Schieflage, die Schwierigkeiten führten zu Eheproblemen und letztlich zur Scheidung. Drei Monate später war Gundula erneut verheiratet. Während des Scheidungsverfahrens erstattete sie gegen ihn Strafanzeige. Der Vorwurf lautete Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in der Ehe und auch, dass er sie mit HIV infiziert habe.

Den Verlauf des Verfahrens kann man aus den Akten und Urteilen entnehmen. Vom Landgericht Flensburg wurde Wolfgang wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung in mehreren Fällen zunächst zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf, weil das Landgericht nicht berücksichtigt hatte, dass die Vorwürfe zum Teil verjährt sowie Anklage und Urteil auch in anderer Hinsicht fehlerhaft waren. Daraufhin wurde in einem weiteren Verfahren die Strafe auf zwei Jahre und sieben Monate reduziert. Die Staatsanwaltschaft erhob eine weitere Anklage wegen der Fälle, die der Bundesgerichtshof für fehlerhaft behandelt hielt. Die Strafe wurde auf drei Jahre und neun Monate erhöht, wobei berücksichtigt wurde, dass sich der Gesundheitszustand von Gundula inzwischen erheblich verschlechtert hatte, allerdings auch wegen einer chronischen Hepatitis C, die sie nicht von Wolfgang haben konnte.

Androhung einer höheren Strafe bei ausbleibendem Geständnis

Wolfgang beteuert, dass er unschuldig ist. Er habe Gundula über seine Infektion gleich zu Beginn der Beziehung informiert. Der Vorwurf der Vergewaltigung sei völlig aus der Luft gegriffen. Aus den Akten ergibt sich, dass die Vorwürfe erst im Scheidungsverfahren erhoben wurden und sich teilweise auf Zeiträume weit vor der Eheschließung bezogen. Nach den Anklageschriften, die sich auf Gundulas Anzeigen stützen, soll es während der ganzen Beziehung lediglich zu vier sexuellen Begegnungen ohne Kondom gekommen sein. Für eine langjährige Beziehung und Ehe ist dies ungewöhnlich, wenn nicht über HIV gesprochen wurde. Es erstaunt auch, dass die behauptete Vergewaltigung schon vor der Eheschließung stattgefunden haben soll. Dennoch gingen Staatsanwaltschaft und die beteiligten Gerichte davon aus, Wolfgang habe seine Infektion verschwiegen und die angebliche Vergewaltigung, für die es weder Zeugen noch ärztliche Befunde gab, sei durch Gundulas Aussage nachgewiesen.

Wolfgang schildert, dass die Richterin ihm im letzten Verfahren erklärte, wenn er nicht gestehe, werde sie eine psychiatrische Untersuchung in einer geschlossenen Abteilung anordnen. Das könne bis zu einem Jahr dauern. In seinem schriftlichen Abschlussbericht erklärt der Verteidiger, er habe im letzten Verfahren einen Deal mit Gericht und Staatsanwaltschaft gemacht. Diese hätten nämlich gedroht, wenn Wolfgang nicht endlich ein Geständnis ablege, werde man ihn zu einer deutlich höheren Strafe verurteilen. Es sei ja nicht auszuschließen, teilt der Verteidiger mit, dass Gundula noch sterben könne, was bei der Strafe verschärfend berücksichtigt werde. Er habe deshalb für Wolfgang das geforderte Geständnis abgegeben. Dies sei mit ihm ja auch so abgesprochen gewesen.

Nach Ansicht des Sozialarbeiters gehört Wolfgang überhaupt nicht ins Gefängnis

Der Sozialarbeiter von der Aidsberatung im Gesundheitsamt berichtet, er habe bei allen Kontakten mit den Anwälten den Eindruck gehabt, dass sie Wolfgang selbstverständlich für schuldig hielten und darauf spekulierten, das Verfahren wegen mangelnder Haftfähigkeit ins Leere laufen zu lassen. Er habe damals große Bedenken gehabt und befürchtet, dass Wolfgang psychiatrisiert werden könnte – ohne die Möglichkeit des offenen Vollzugs, in dem Wolfgang sich zurzeit befindet. Seiner Ansicht nach gehöre Wolfgang überhaupt nicht ins Gefängnis. Doch er sei ein mustergültiger Häftling, dem, soweit immer möglich, der Sozialdienst der Justizvollzugsanstalt Vergünstigungen zugestehe, sei es für die Teilnahme an externen Gruppen wie in seiner Beratungsstelle oder an Tagungen, die sich mit HIV beschäftigen.

Nach einem Jahr Haft wussten alle von Wolfgangs HIV-Infektion. Foto: Dieter Schütz, pixelio.de

Sein Verhältnis zu Frauen hat Wolfgang inzwischen mit einem Sozialarbeiter der Straffälligenhilfe der Stadtmission aufgearbeitet. Im Abschlussbericht heißt es: „Im Hinblick auf die vorgeworfenen Gewaltdelikte verbleiben Sie bei ihrer bekannten Haltung und äußerten, dass Sie so etwas nicht getan haben. Ihre Schilderungen hier waren nachvollziehbar und glaubhaft, Aggressivität oder ein Verhalten, dass Sie Frauen als etwas Geringwertiges betrachten, waren hier nicht erkennbar. Wir haben die Gespräche und Hausaufgaben genutzt, auch ihre Situation und Ihr Befinden gegenüber ihren beiden Frauen in Worte zu fassen. Bei aller Wut zeigten sich keine gewalttätigen Tendenzen.“

„Seit dem Strafverfahren bin ich vom Kopf her tot“

Über seine Haft erzählt Wolfgang: „Im Knast blieb HIV zunächst völlig unter der Decke. Aber nach einem Jahr wusste es trotzdem jeder. Manche Mitgefangenen haben Angst. Als wir eine Stechmückenplage hatten, musste ich die Mitgefangenen beruhigen, dass das völlig ungefährlich ist. Ich merke, dass man Abstand zu mir hält. Aber wenn man sich intensiver unterhält, wird schon mal vertraulich erzählt, dass viele doch HIV-Infizierte kennen. Und ich merke, dass der Umgang sich ändert.“

Auf die einsame Insel würde er auch eine Partnerin mitnehmen. Foto: Jochen Binikowski, pixelio.de

Auf die Frage, was sich durch die Haft für ihn geändert hat, antwortet Wolfgang: „Seit dem Strafverfahren bin ich vom Kopf her tot. Meine Unbefangenheit gegenüber Frauen habe ich verloren. Da gibt es für mich kein Vertrauen mehr.“ Wolfgang fühlt sich verletzt – von den Frauen in seiner Vergangenheit, von der Justiz und seinen Anwälten. „Die haben sich überhaupt nicht für das interessiert, was ich gesagt habe. Die haben die Akten gelesen und mich innerlich schon verurteilt.“ Er ist seelisch angegriffen, aber die Gespräche mit den Sozialarbeitern haben ihm geholfen.

„Meine Erwartungen an Beziehungen haben sich geändert“

Heute fühlt er sich zwar nicht krank, aber immer noch infektiös: „Und das, obwohl ich weiß, dass meine Viruslast unter der Nachweisgrenze ist.* Das ist eine Geschichte, die über den Kopf abläuft. Mit dem Blut hat das eigentlich nichts zu tun. Ich glaube, dass dabei das Strafverfahren eine Rolle spielt. Hätte ich die medizinischen Entwicklungen in Freiheit erleben können und vielleicht auch an Positiventreffen der Aidshilfe teilnehmen können, wäre das Wissen vielleicht schon in meinem Gefühl angekommen. Dann hätte ich verinnerlicht, dass ich niemanden anstecken kann und nur noch die Frage bliebe, wie spreche ich mit einer möglichen Partnerin, und wie gehen wir mit vielleicht vorhandenen Ängsten um. Meine Erwartungen an Beziehungen haben sich geändert. Ich höre da mehr auf meine Bedürfnisse.“

Die Hoffnung auf eine Partnerin hat er dann doch nicht aufgegeben. Auf die einsame Insel würde er deswegen nicht nur eine Jacht, sondern auch eine Partnerin mitnehmen, mit der er durch dick und dünn gehen kann. Und für sie müsste auch etwas dabei sein. Ein Handy gäbe ihr doch die Möglichkeit, ihre Freundschaften weiterhin zu pflegen.

 

* Anmerkung der Redaktion: Eine erfolgreiche, stabile HIV-Therapie senkt die Viruslast im Blut sowie in den genitalen und rektalen Sekreten, wodurch auch die Infektiosität gesenkt wird. Die Wahrscheinlichkeit einer sexuellen HIV-Übertragung ist in diesem Fall um 96 % reduziert, wie eine im Mai 2011 veröffentlichte Studie mit dem Kürzel HPTN 052 belegt hat. Die Therapie schützt damit in etwa genauso effektiv wie Kondome, welche die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit um etwa 95 % verringern.

Folgende Artikel aus der Reihe sind bereits erschienen:

Die Verängstigung ist greifbar

Da nahm das Drama seinen Lauf

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