Der ambulante Pflege- und Hauswirtschaftsdienst der AIDS-Hilfe Frankfurt soll zum Jahresende schließen. Damit steht einer der letzten vier auf HIV und Aids spezialisierten Pflegedienste vor dem Aus. Was läuft schief in der Finanzierung der häuslichen Versorgung von HIV-Patienten? Axel Schock hat nachgefragt.
Florence Nightingale, Begründerin der modernen Krankenpflege, war auch eine Frau blumiger Worte. „Krankenpflege ist keine Ferienarbeit. Sie ist eine Kunst und fordert, wenn sie Kunst werden soll, eine ebenso große Hingabe“, schrieb sie künftigen Generationen ins Stammbuch. Ihr zu Ehren wird seit den 1960er Jahren der 12. Mai, Nightingales Geburtstag, als Internationaler Tag der Pflege begangen.
Die Kunst, trotz finanzieller Unterversorgung nicht in den Konkurs abzustürzen
Auch hundert Jahre nach dem Tod der berühmten britischen Krankenschwester ist die Pflege weiterhin keine Ferienarbeit, sondern ein Knochenjob. Und die Betreiber von ambulanten Aids-Schwerpunkt-Pflegediensten müssen sich zwangweise immer mehr in der Kunst üben, trotz finanzieller Untervorsorgung nicht in den Konkurs abzustürzen.
Nennen wir ihn einfach mal Bernd. Bernd ist drogenabhängig und sowohl an Aids als auch an Hepatitis C erkrankt. Damit die Viruslast stabil bleibt, ist wichtig, dass er regelmäßig seine Medikamente einnimmt. Dafür sorgt eine Krankenpflegerin des Hannoveraner ambulanten Pflegedienstes SIDA e.V. 2,30 Euro zahlt die Krankenkasse pro Medikamentenvergabe. Inklusive Anfahrt. Auch Bernds offene Beine müssen täglich frisch verbunden werden. Dafür gibt’s immerhin 3,70 Euro. „Das rechnet sich nicht“, sagt Holger Bayer, Pflege- und Versorgungsmanager bei SIDA, ganz knallhart.
Rund 25 HIV-Patienten werden von seinem Pflegedienst ständig versorgt. Patienten, die nicht nur in Hannover-Stadt, sondern auch im Umland zwischen Braunschweig, Celle und Minden leben. Aus rein betriebswirtschaftlicher Warte betrachtet und um das Weiterbestehen des Unternehmens nicht zu gefährden, müsste Holger Bayer Patienten wie Bernd eigentlich ablehnen. „Wir haben das Glück, dass wir auch Infusionstherapien anbieten und mit den Kassen sehr gute Versorgungsverträge für andere chronisch kranke Patienten abschließen konnten. Dadurch können wir die Defizite intern ausgleichen“, verrät Bayer.
Müsste sich das Berliner Felix Pflegeteam allein mit den kassenärztlichen Zahlungen finanzieren, hätte man auch dort längst dichtmachen müssen – so wie es in den letzten zehn Jahren vielen Schwerpunkt-Pflegediensten bereits ergangen ist. 100.000 Euro schießt der Senat pro Jahr dazu. „Dies ist der entscheidende Tropfen, der es uns möglich macht, eine nicht kostendeckende Pflege aufrechtzuerhalten“, sagt Geschäftsführerin Peggy Coburger. Tarifgehälter kann sie ihren Angestellten aber dennoch nicht zahlen.
Defizite sind nicht länger durch Spenden und Sponsorengelder aufzufangen
Das Defizit beim 1989 gegründeten Frankfurter Regenbogendienst hatte bislang die örtliche Aidshilfe durch Spenden und Sponsorengelder aufgefangen. Zuletzt war es ein Drittel des Gesamtetats, rund 230.00o Euro – zu viel, um das weiterhin stemmen zu können. Ende April kündigte deshalb Achim Teipelke, Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Frankfurt, die Schließung des Pflegedienstes Regenbogendienst zum Jahresende an.
Grund zur Klage angesichts der schwierigen Situation hätten eigentlich alle Betreiber ambulanter Pflegedienste. Doch Spezialpflegedienste wie den Regenbogendienst trifft die chronische Unterfinanzierung aufgrund ihrer Klientel besonders hart. „Unsere Patienten sind meist Menschen mit Multi-Problemen. Sie haben HIV, sind womöglich drogenabhängig, haben psychologische Probleme und leben sozial isoliert“, erklärt Lutz Middelberg vom Care 24 Pflegedienst in Düsseldorf. Die meisten von ihnen haben auch kein unterstützendes soziales Umfeld. Entsprechend schwierig und arbeitsintensiv sind diese Einsätze für die Pflegekräfte. Mit dem knapp bemessenen Zeitkontingent, das die Kassen für die Pflege genehmigen, ist hier nur selten zurechtzukommen.
Das knapp gemessene Zeitkontingent für Pflege reicht bei Menschen mit Multi-Problemen nicht aus
Drogenabhängige beispielsweise sind nicht immer zuverlässig und oft nicht zu den vereinbarten Zeiten zu Hause anzutreffen. Die Pflegekräfte müssen dann wieder unverrichteter Dinge abfahren. Solche Leerfahrten werden von den Kassen allerdings nicht bezahlt. Auch kommt es schon mal vor, dass die Pflegekraft eine halbe Stunde warten muss, bis der Patient den für sich notwendigen Joint geraucht hat – obwohl nur acht Minuten für diesen Einsatz vorgesehen sind. Oder der Krankenpfleger muss erst einmal etwas zu essen besorgen, weil das zu verabreichende Medikament nicht auf nüchternen Magen eingenommen werden darf. Der medizinische Dienst plant bei der Ermittlung der Pflegestufe solche Schwankungen in der Hilfebedürftigkeit der Patienten in der Regel jedoch nicht ein.
Psychische Krisen, leerer Kühlschrank, ein drogenabhängiger Patient im Rausch – die spezialisierten Pflegedienste wissen mit den besonderen Lebensumständen und Lebensweisen von HIV-Patienten umzugehen. Hinzu kommt, dass Spezialpflegedienste nicht allein stadtteilbezogen arbeiten, sondern häufig sehr lange – unbezahlte – Anfahrtswege zu den Patienten auf sich nehmen müssen. Nicht zuletzt auch, weil gerade Menschen in prekären Lebenslagen beispielsweise in Frankfurt immer mehr in die Randgebiete und über die Stadtgrenzen hinaus gedrängt werden.
„Wir benötigen eine lebensrealistischere Finanzierung von Pflege“
„Wir benötigen eine lebensrealistischere Finanzierung von Pflege, zum Beispiel über einen Sockelbetrag, mit dem dann auch solche Leerfahrten finanziert oder nicht anrechenbare Leistungen möglich sind“, fordert deshalb Silke Eggers, Referentin für Soziale Sicherung und Versorgung der Deutschen AIDS-Hilfe. Dass spezialisierte Pflegedienste auch weiterhin notwendig sind, zeigen die bisweilen erschütternden Erfahrungen von Patienten bei anderen Pflegeeinrichtungen. „Wir erleben immer wieder, dass Pflegedienste es ablehnen, Menschen mit HIV zu betreuen“, sagt Peggy Coburger von Felix und berichtet von einem Patienten, der in ein Pflegeheim abgeschoben worden war, wo das Pflegepersonal sich ihm nur mit doppelten Handschuhen und Mundschutz näherte. Seine letzten Lebenstage musste der Mann ohne jegliche menschliche Berührung verbringen.
HIV-Patienten, zumal wenn sie multimorbid sind, gelten für die meisten privat geführten Pflegedienste als zu unwirtschaftlich. Es kommt daher zu häufigem Wechsel zwischen stationärer und ambulanter Versorgung und auch der Anbieter – mit der Folge, dass Patienten verelenden und nicht regelmäßig ihre Medikamente nehmen, sodass dann die Viruslast steigt und die Erkrankten früher sterben.
Wie also geht es weiter? Der Alarmruf des Frankfurter Regenbogendienstes hat zumindest einige Menschen aufgerüttelt. Derzeit, so die Leiterin Katrin Medack, würden Gespräche über andere Finanzierungsmodelle oder mögliche Kooperationen geführt. Für die rund 100 Patienten besteht daher die Hoffnung, dass sie auch über 2012 hinaus adäquat versorgt und betreut werden.
Auf lange Sicht hilft nur eine Änderung auf gesundheitspolitischer Ebene
Felix in Berlin setzt auf Expansion statt Rückzug. Durch die Zusammenarbeit mit dem Wohnprojekt „zik – zuhause im Kiez“, deren Bewohner von Felix ohne kostenintensive Anfahrtswege versorgt werden, können die unwirtschaftlichen Außentouren querfinanziert werden. Nun plant Felix den Umbau eines Kreuzberger Wohnhauses zut 25 Pflege-Appartements für Menschen, die aufgrund schwerer chronischer Krankheiten wie HIV/Aids und Hepatitis C eine Rund-um-die-Uhr-Pflege benötigen. Im Juni fällt die Entscheidung, ob die Lottostiftung Berlin den Umbau finanziert.
Auf lange Sicht allerdings hilft nur eine Änderung auf gesundheitspolitischer Ebene. Was müsste sich ändern? Zwar gilt in der Pflegeversicherung offiziell das Prinzip „ambulant vor stationär“, doch anstatt ambulante Versorgungsstrukturen zu stützen, entstehen immer mehr Heimplätze. Das hat einen Grund: „Wenn ein Patient von seinem Arzt in die Klinik oder mit Pflegestufe 1 in ein Altenheim eingewiesen wird, können die Kassen nichts machen und zahlen daher auch problemlos den Heimplatz. Das ist eine Muss-Leistung“, erklärt Holger Bayer.
Dass der aufwendige Verbandswechsel beim drogenabhängigen Bernd mit mehr als nur 3,70 Euro entlohnt wird, ist hingegen eine Kann-Leistung. Der zeitliche Mehraufwand wird von den Kassen meist erst einmal pauschal abgelehnt. Für Holger Bayer bleibt in einem solchen Fall nur, dagegen zu klagen. „Das kostet alles Zeit und Geld.“ Beides sollte man lieber in die Patientenversorgung einbringen. Durch eine angemessen finanzierte Versorgung zu Hause könnte manchem Erkrankten der Pflegeheimaufenthalt erspart bleiben und die Kassen würden, selbst bei einer höheren Budgetierung der Pflege, noch Geld einsparen.
Warum es in dieser Hinsicht noch kein Umdenken in der Gesundheitspolitik gab, liegt entweder an Überforderung oder Behäbigkeit der zuständigen Behörden. Oder an der guten Lobbyarbeit der stationären Pflegeeinrichtungen.