Selbstbestimmung fördert die Gesundheit

Professor Rolf Rosenbrock

Professor Rolf Rosenbrock (Foto: David Ausserhofer/WZB)

Aids ist eines der vielen Arbeitsfelder der Sozial- und Gesundheitspolitik, auf denen sich Rolf Rosenbrock mit großem Engagement und Erfolg für die Verminderung sozial und gesundheitlich bedingter Ungleichheit von Lebenschancen und die Förderung von Teilhabe einsetzt. Mit dem Gesundheitswissenschaftler, der bis Ende Mai 2012 die Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) leitet und am 26. April zum neuen Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gewählt wurde, sprachen Jochen Drewes und Hella von Unger.

von Unger: Rolf, dein Weg in die Wissenschaft war nicht geradlinig, sondern du hast eine kaufmännische Lehre gemacht, dann einen Diplom-Kaufmann und warst ein Jahr in Chile. Danach hast du in Volkswirtschaftslehre und politischer Ökonomie promoviert und warst seit Ende der 1970er am WZB beschäftigt, wo du zu verschiedenen Gesundheitsthemen gearbeitet hast. Wie bist du zum Thema HIV gekommen?

Rosenbrock: Wie jeder schwule Mann hab ich mit Entsetzen gehört, dass da irgendwas Schreckliches ist. Es kam mir aber überhaupt nicht in den Sinn, mich da wissenschaftlich zu engagieren. Und dann sagte Gerd Paul, Leiter der WZB-Bibliothek und einer der Gründerväter der Deutschen und der Berliner AIDS-Hilfe, zu mir: „Du kannst hier nicht einfach als schwuler Gesundheitswissenschaftler rumsitzen und zu Aids überhaupt nichts sagen.“ Das war ein moralisches Argument, dem ich mich schwer entziehen konnte.

von Unger: Kanntest du damals schon Männer, die an der noch relativ unbekannten Krankheit erkrankt oder gestorben waren?

„Du kannst nicht als schwuler Gesundheitswissenschaftler zu Aids nichts sagen“

Rosenbrock: Zunächst nicht. Meine ersten Kontakte mit HIV-positiven, aidskranken und an Aids sterbenden Männern hatte ich, als ich 1986 das Buch „Aids kann schneller besiegt werden“ [1] schrieb. Und dann kam ich dem HIV-Problem auch menschlich sehr nah. Ich lebte damals in einer monogamen, szeneabgewandten schwulen Beziehung, und trotzdem fingen wir plötzlich an, Kondome zu benutzen, was weiß Gott nicht erforderlich gewesen wäre. [lacht] Aber das war diese ganze Unsicherheit.

Drewes: Was wolltest du mit dem Buch erreichen?

Rosenbrock: Das Buch war mein Politikvorschlag. Im Kern geht es mir immer ums „Wie man’s anpackt“ – das ist es, was Wissenschaft für mich aufregend macht.

von Unger: Und dir wurde ja auch zugehört. Du bist zum Beispiel in die 1987 eingerichtete Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung“ unter Rita Süssmuth berufen worden. Wie muss man sich die Arbeit dort vorstellen?

Professor Rita Süssmuth 2011

Rita Süssmuth hat die deutsche Aids-Politik entscheidend geprägt (Foto: Udo Grimberg/Quelle: wikipedia.org)

Rosenbrock: Die war sehr konfliktreich, weil CDU und CSU die medizinischen Vertreter der Gauweiler-Linie in die Enquete geschickt hatten und die FDP Professor Stiller aus Frankfurt, der mit dem Ruf „Testen, testen, testen!“ in den Versammlungsraum stürmte. In den drei Jahren verschärfte sich mein Verhältnis zur Medizin, weil ich massiv und dauerhaft dieser übergriffigen Arroganz begegnet bin, die vielen Angehörigen dieser Disziplin eigen ist – und das gepaart mit großer Ignoranz. Es war harte Arbeit, aber zugleich die Traumstunde des politikberatenden Sozialwissenschaftlers. Unsere Ausschuss-Sitzungen in Bonn waren öffentlich, und an den Wänden rund um unseren Verhandlungstisch saßen Vertreter aus allen damals elf Bundesländern, schrieben mit, was wir sagten, und wandelten das in den nächsten Wochen in Erlasse für ihre Gesundheitsämter um – also: Respekt vor den Zielgruppen, Inklusion [Einschluss, Anm. d. Red.], Abwehr aller Repression [Unterdrückung, Anm. d. Red.] und größte Zurückhaltung beim Test.

von Unger: Wie konntest du dich damit gegen Experten durchsetzen, die Gauweiler-Positionen wie Ghettoisierung, Isolierung und Massentests vertraten?

Ich kämpfe gerne für „Witwen und Waisen“ – im Sinne von Anwaltschaft

Rosenbrock: Ich war ja nicht allein. Neben mir saßen Manfred Bruns, der als ehemaliger Bundesanwalt alles juristisch wunderbar begründete, die unvergleichliche Sophinette Becker, Psychologin bei Volkmar Sigusch am Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt, und Dieter Riehl, der Geschäftsführer der Deutschen AIDS-Hilfe. Zum anderen sind die Vertreter der Old-Public-Health-Strategien [2] argumentativ nach drei Schritten an der Wand. Nur für die, die sie äußern, ist das offenbar nicht merkbar. [lacht] Und wir hatten natürlich die bessere Presse. Ich gehörte gleichzeitig noch einer zweiten Enquete-Kommission an und hatte ein extrem anstrengendes Vortragsprogramm vor Akademien, Aidshilfen, Allgemeinen Studentenausschüssen und Kommunalverwaltungen. Ich nahm jede Einladung an, weil ich den Eindruck hatte, dass es jetzt wirklich darauf ankommt. Auf einer dieser Tagungen lernte ich dann auch meinen heutigen Lebensgefährten kennen.

von Unger: Konntest du schon immer offen mit deiner Homosexualität umgehen?

Rosenbrock: Nein, ich war zu Beginn der Aidskrise ein „versteckter Schwuler“. In meinem Arbeitsbereich und im Freundeskreis wussten alle Bescheid, aber ich hatte größte Hemmungen, öffentlich zu sagen: „Ich bin ein schwuler Mann“. Und ich war damals sehr verärgert, als das Berliner Schwulenmagazin  Siegessäule mich in einer Rezension von „Aids kann schneller besiegt werden“ als schwulen Sozialwissenschaftler bezeichnete. Ich hatte es ihnen verboten, aber sie haben es trotzdem gedruckt. Über dieses Zwangsouting war ich sauer, weil mich das in der Festigkeit, mit der ich meine Rolle spielte, erschütterte. Ich kämpfe gerne für arme Witwen und Waisen, tu das aber mehr im Sinne von Anwaltschaft und weniger als Selbstverteidigung.

Ich empfand es als echte Arbeitserschwernis, jetzt geoutet zu sein, und es war einfach extrem unsolidarisch. Aber es war dann alles viel harmloser als befürchtet: Kaum ein Heterosexueller liest die Siegessäule. Und in der Öffentlichkeit war ich der Fachmann für Public Health, Manfred Bruns war unser Berufsschwuler, Sophinette Becker war für die Psyche zuständig und Dieter Riehl für die Selbsthilfe. So waren die Rollen verteilt. Da war ich gar nicht als Schwuler im Ring. Aber für mich ist es auch eine dieser bitteren Ironien, dass ich durch die Ausnahmesituation Aids meinen Lebensgefährten gefunden habe und mein persönlicher Emanzipationsprozess dadurch beschleunigt wurde.

Drewes: Das Buch „Die Normalisierung von Aids“ [3] aus dem Jahr 2002 steht dann unter ganz anderen Vorzeichen …

Boxhandschuhe

In den reichen Ländern ist HIV-Politik immer auch Machtkampf (Foto: Rike/pixelio.de)

Rosenbrock: Der zugrunde liegende gleichnamige Aufsatz [4] war das Ergebnis einer EU-Konferenz 1998 in Paris. Wir wollten genau das verarbeiten, was der Titel sagt. Aids hatte seinen Ausnahmestatus verloren, das bedeutete geringere Medienwirksamkeit, weniger Freiwillige. Das Aidsbündnis mit allem, was liberal, links und bürgerrechtlich war, hatte sich schützend um schwule Männer geschart. Die hatten inzwischen auch viele andere Themen, und die Finanzbedarfe wurden keineswegs kleiner. Das steuerte auf eine kritische Situation zu, nicht nur in Deutschland. Wir wollten klarmachen, dass es jetzt drei Möglichkeiten gibt: a) Normalisierung als Stabilisierung des Status quo, b) Abbau von Versorgungs- und Präventionsstrukturen oder c) Übertragung des Aids-Modells auf andere Krankheitsbilder und Bevölkerungsgruppen. Wir haben uns natürlich für das dritte ausgesprochen. In diesem Feld ist die Entscheidung für New Public Health gefallen. Sie ist etabliert, sie hat sich bewährt, sie könnte ausgebaut werden – und nun beginnt es zu bröckeln. Das war für uns die zweite Aidskrise, der wir mit diesem Schriftstück ein wenig entgegenwirken wollten.

Drewes: Wenn wir uns aktuelle Entwicklungen in der der HIV-Prävention anschauen, was werden da künftige Herausforderungen sein?

Rosenbrock: Die beste gesundheitspolitische Nachricht war 2010 für mich, dass die HIV-Neuinfektionen in den letzten fünf Jahren weltweit um 25 Prozent zurückgegangen sind. In der Presse hieß es dann meist: Jetzt müssen wir noch mal zehn Milliarden in Medikamente investieren, dann geht das alles weg. Das ist natürlich Quatsch. Dieser Rückgang ist auch nicht mit Medikamenten erklärbar, sondern als weltweiter Erfolg Community-basierter Interventionen, was viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird.

Wir wollen die Übertragung des Aids-Modells auf andere Bereiche

In den reichen Ländern kann man die gesamte HIV-Politik auch als Machtkampf verstehen: zwischen Sozialwissenschaft und Medizin, zwischen Selbsthilfe und professionellen, medizinischen, behandelnden Institutionen. In der ersten Runde haben wir klar gewonnen, weil die Medizin nichts in der Hand hatte. In der zweiten Runde, der „Remedikalisierung“, haben wir viel verloren: Nicht mehr der Patient steht im Mittelpunkt, sondern das Medikamentenregime. Und die dritte Runde wird jetzt eingeläutet. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass durch die antiretrovirale Therapie (ART) auch die Übertragungswahrscheinlichkeit stark gesenkt oder nahe Null gebracht werden kann und es naheliegt, von „Behandlung als Prävention“ zu sprechen. „Wir setzen alle, die HIV haben, sofort unter ART, und dann können sie rumvögeln, wie sie wollen, da passiert nichts mehr. Was wollt ihr da noch mit euren Kondomen? Und die Aidshilfen schaffen wir einfach ab.“ Das ist die Logik.

Stethoskop

Die Entscheidung für eine Therapie muss beim Individuum bleiben (Foto: Andreas Damm/pixelio.de)

Dagegen sprechen aber unter anderem ethische Argumente: Noch nicht behandlungsbedürftige Menschen bekämen dann eine hochgiftige Therapie mit unerwünschten Nebenwirkungen verpasst. Den Nutzen hätte nicht das therapierte Individuum, sondern die Gesellschaft und die Community. Das ist eine gefährliche Hereinnahme einer Public-Health-Ethik in individuelle Therapie-Entscheidungen zulasten des Einzelnen. Das haben wir in Deutschland im Nationalen Aids-Beirat gerade noch mal verhindert, wo wir ein entsprechendes Statement verabschiedet haben. Aber in den USA werden solche ethischen Argumente einfach überrollt.

von Unger: Du hast immer sehr eng mit der aus der Selbsthilfe entstandenen Deutschen AIDS-Hilfe zusammengearbeitet – welchen Stellenwert hat das für dich?

Rosenbrock: Ich bin einer derer, die Wissen zusammentragen, um Konzepte zu formulieren, die Aidshilfen im Grunde genommen auch selbst formulieren würden, wenn sie mehr Zeit dazu hätten. So verstehe ich mich auch heute noch – auch für etliche andere Organisationen. Verändert hat sich natürlich die Aidshilfe. Institutionen haben ihre Biografien: Meistens entdeckt man sie, wenn sie pubertär sind, wenn sie gerade zu Bewusstsein kommen, aktiv werden und rotzfrech und irgendwie chaotisch sind. Und so hab ich die DAH 1985 in ihrer 4-Zimmer-Wohnung in der Berliner Straße kennengelernt. Es gab ein neues Problem, und der Verband hat frische Ideen und frische Kräfte in das politische Geschäft und den politischen Diskurs gebracht. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Mittlerweile ist die DAH ein verbandlicher Akteur im deutschen Wohlfahrtsstaat – das ist etwas anderes als der wuselige „AStA“ [Allgemeiner Studierendenausschuss, Anm. d. Red.], als den ich sie kennengelernt habe, mit Stärken und Schwächen.

Drewes: Die DAH steht heute ja auch vor anderen Herausforderungen. Ein Thema ist die immer stärker geforderte Evidenzbasierung von Prävention in lebensweltlichen Kontexten, also der Nachweis, dass Prävention wirkt. Was ist dein Standpunkt dazu?

Die Zukunft der Gesundheit liegt nicht in der Medizin

Rosenbrock: Ich stehe dazu, dass man Wirksamkeit nachweisen muss. Weil Prävention als New-Public-Health-Intervention über öffentliche Mittel bezahlt werden muss, stehen wir auch objektiv unter Druck. Ich halte allerdings vieles für Schnellschüsse und überzogene Ansprüche. Politisch ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung der richtige Ort, nicht um zu exekutieren und über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit zu entscheiden, sondern um den Erkenntnisweg gemeinsam zu gestalten. Methodisch haben wir heute die „partizipative Qualitätsentwicklung“, die klassischen Evaluationsdesigns mit differenzierten Vorher-Nachher-Messungen, die qualitative, formative Evaluation, mit deren Ergebnissen man Prozesse verbessert, und die Modelle guter Praxis. Mit diesem Methoden- und Messarsenal lässt sich ungefähr sagen, was wirkt und was nicht wirkt.

von Unger: Du hast dich aus dem WZB mit einer Tagung zu „Partizipation und Gesundheit“ verabschiedet. Wieso hast du den Akzent auf Partizipation gelegt?

Rosenbrock: Partizipation im Sinne direkter Entscheidungsteilhabe war ein Aspekt in allen Projekten der Forschungsgruppe im letzten Vierteljahrhundert, ohne dass wir uns als „Partizipationsinstitut“ verstanden hätten. Es geht darum, jedes Gesundheitsthema immer auch aus dem Blickwinkel der Betroffenen zu betrachten und sie möglichst selbst zur Sprache zu bringen. Dabei kommt immer Partizipation heraus – als uneingelöstes Versprechen, als Lösungsstrategie oder als Ressource.

Drewes: Du bist jetzt viele Jahre aktiv und hast großen Einfluss ausgeübt. Mit welchen Kernbotschaften möchtest du gern in Erinnerung bleiben? Welche Botschaften und Ziele werden auch für deine Arbeit als Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbands leitend sein?

Rosenbrock: Erstens, dass die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheits- und Lebenschancen die zentrale Herausforderung nicht nur für die Gesundheits-, sondern auch für die Sozial-, die Arbeitsmarkt- und die Bildungspolitik ist. Zweitens, dass Nachdenken und Forschen über Gesundheit – neben der politischen Ökonomie – ein hervorragender Weg ist, um Gesellschaft insgesamt verstehen und fundierte Vorschläge für Veränderungen machen zu können. Drittens, dass die Zukunft der Gesundheit nicht in der Medizin liegt – das ist in konservativen Zeiten immer wieder zu betonen. Und viertens, dass der Weg über die Selbstbestimmung in den Lebenswelten nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Demokratie und das Zusammenleben fördert.


[1] Rolf Rosenbrock (1986). Aids kann schneller besiegt werden. Gesundheitspolitik am Beispiel einer Infektionskrankheit. Hamburg: VSA-Verlag.

[2] „Unter ‚Old Public Health‘ kann man z. B. strenge Verhaltensauflagen, rigide Eingriffe in Bürgerrechte, Quarantäne, Therapiezwang und auch Zwangstests verstehen, um Infizierte zu ermitteln und Infektionsquellen ‚stillzulegen‘. Unter ‚New Public Health‘ dagegen versteht man z. B. die Mobilisierung der Communitys, die Einbeziehung der Zielgruppen in die Planung und Umsetzung von Prävention, Versorgung und sozialer Unterstützung, Freiwilligkeit, positive Verhaltensanreize in der sozialen Umwelt sowie Befähigung und Stärkung von Einzelnen und Gruppen – wir sprechen hier von einer gesellschaftlichen Lernstrategie im Gegensatz zu einer seuchenrechtlichen Suchstrategie.“ (Aus: Kreativität und Durchhaltevermögen. Prof. Dr. Rolf Rosenbrock über Strukturelle HIV- und Aids-Prävention. In: Jahrbuch 2009/2010 der Deutschen AIDS-Hilfe. Berlin: DAH 2010, S. 97)

[3] Rolf Rosenbrock und Doris Schäffer (Hg.) (2002). Die Normalisierung von Aids: Politik – Prävention – Krankenversorgung. Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Aids-Forschung, Band 23. Berlin: Edition Sigma.

[4] Rosenbrock, R./Schaeffer, D./Moers, M./Dubois-Arber, F./Pinell, P./Setbon, M. (2000): The Normalization of AIDS in Western European countries. The Aids Policy Cycle in Western Europe. From Exceptionalism to Normalization. Social Science and Medicine 50 (11), 1607–1631

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