Eurotransplant und die Datenfälscher

(P. Köhler) Eurotransplant (Leiden/NL) ist eine gemeinnützige Stiftung, selbstverwaltet durch Delegierte aus gegenwärtig 72 transplantierenden Krankenhäusern. Für Deutschland ist die Stiftung mit ihren ca. 110 Angestellten auch die gesetzliche Vermittlungsstelle gemäß §12 des Transplantationsgesetzes. Die weiteren angeschlossenen Länder sind Österreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Kroatien und Slovenien, mit insgesamt 124 Mio. Einwohnern.
Neue Organspender und mögliche Organempfänger werden von den örtlichen Beauftragten (meist leitende Chirurgen oder Intensivmediziner) Tag und Nacht nach Leiden gemeldet und dort in komplizierten, computerisierten Algorithmen einander zugeordnet. Alles muß extrem schnell gehen, also telefonisch und digital, mit einer 24/7-Bereitschaft von medizinischen Fachleuten zur Beurteilung der eingereichten Daten.
Ein Beispiel ist das Eurotransplant kidney allocation system (ETKAS), mit dem ein Teil der Spendernieren verteilt wird. In der Regel gibt es in der Datenbank mehrere Empfänger mit ausreichender HLA-Übereinstimmung zum Spender. ETKAS ordnet die Empfänger in eine Reihenfolge; sie erhalten das Spenderorgan dann in dieser Reihenfolge angeboten. Dafür werden Punkte nach immunologischen und weiteren Kriterien (Alter, Wartezeit) vergeben.
Der ETKAS-Algorithmus wurde von dem Informatiker Thomas Wujciak und dem Immunologen Gerhard Opelz (beide Univ. Heidelberg) zu dem Zweck erfunden, die zum Teil extrem langen Wartezeiten zu vermindern. (Vor 1996 waren die Nieren nur nach immunologischen Kriterien verteilt worden, und die Empfänger warteten bis zu 20 Jahre auf ein passendes Organ.) Ihr Verfahren ist eigentlich mustergültig transparent und nachvollziehbar. 
Vereinfacht dargestellt (hier ausführlich), gibt es Punkte für den HLA-Übereinstimmungsgrad (max. 400 Punkte), für die Unwahrscheinlichkeit einer weiteren passenden Niere in der nächsten Zeit (max. 100 Punkte), Wartezeit (in Deutschland 50 Punkte pro Jahr, max. 200), Nähe zum Spenderkrankenhaus (bis zu 300 Punkte), und es gibt einen Ausgleich, wenn das Empfängerland im letzten Jahr relativ wenig Organe bekommen hat (bis ca. 200 Punkte). Wartende Kinder werden bevorzugt: es gibt 100 Punkte Bonus und doppelte Punktzahl bei der HLA-Übereinstimmung.
Sehr dringende Empfänger (HU = highly urgent) bekommen 500 Bonuspunkte. Dieses Merkmal bekommt ein Patient in sehr schlechtem Allgemeinzustand, der nicht länger Dialyse erhalten kann, weil bereits lebensbedrohliche Komplikationen wie z.B. Suizidalität, eine schwere Polyneuropathie, oder schwere Harnblasenprobleme vorliegen. Der HU-Status muß per Online-Formular bei Eurotransplant beantragt werden und wird dort von Bereitschaftsgutachtern beurteilt. HU-Patienten bekommen ihr Organ durchschnittlich nach wenigen Wochen, während die Wartezeit sonst Monate oder Jahre dauern kann.
Die Originalakten können bei diesem zeitkritischen Prozeß nicht geprüft werden. Alles hängt also bisher davon ab, dass derjenige Kollege, der die Eurotransplant-Formulare ausfüllt, korrekt arbeitet – was offenbar nicht immer der Fall ist. Wenn jemand manipulierte Daten einreicht, kann das bei Eurotransplant niemand merken; höchstens Kollegen oder Mitarbeiter des Arztes mit vollem Einblick in die Krankenakten würden die Fälschung vielleicht bemerken.
Wahrscheinlich stammt die anonyme Anzeige, die den Göttinger Skandal auffliegen ließ, aus diesem Kreis.
Von den möglichen Motiven des Fälschers abgesehen – die vielleicht auch uneigennützig waren! – ist schon jetzt sicher, dass an dieser Stelle künftig mehr kontrolliert werden muss, egal ob es der Staat oder die ärztliche Selbstverwaltung übernimmt. Die eingereichten Formulare müssen die echte Situation des Organempfängers wiederspiegeln und ihn nicht kränker aussehen lassen, als er ist. 
Ich stelle mir aber vor, dass ein Verfahren, in dem es auf Minuten ankommt und woran hochspezialisierte Fachleute aus ganz Europa mitarbeiten, ohne die Uhrzeit oder das Wochenende zu berücksichtigen, nicht beliebig viel Bürokratie verträgt.

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