„Gesund ist, wer kreativ mit sich und seiner Umwelt umgeht“

Fantasie

Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten (Illustration: Adel / pixelio.de)

„Bis hierher – und noch weiter“ – unter diesem Motto fand im November 2011 in Berlin eine Präventionskonferenz der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) statt. Zur Eröffnung hielt HIV-Aktivist und DAH-Ehrenmitglied Bernd Aretz einen Vortrag zu den Themen Lust, Rausch und Gesundheit, den wir hier dokumentieren:

Sexualität, Rausch, Ekstase und Leidenschaft sind als Wünsche tief in der Menschheitsgeschichte verankert. Das Leiden an der alltäglichen Kleinheit der Existenz, an Nöten, Leistungsdruck und Überforderung, der Wunsch nach Leichtigkeit, angenehmen Erfahrungen, Bewusstseinserweiterung oder Erkenntnis sind mit dem Menschsein verbunden. Das findet seinen Niederschlag in Religiosität, Spiritualität oder aber auch dem Bedürfnis, Situationen, Krisen oder Stimmungslagen, die kaum auszuhalten sind, die Spitzen zu nehmen, sich in einen anderen Zustand zu versetzen.

Die Wege dahin reichen von der Askese, dem Versuch, eigene Grenzen zu überwinden, wie etwa beim Marathonlauf, über die Entscheidung, sich etwas Gutes zu tun, zum Beispiel durch den Besuch bei der Kosmetikerin oder den Kauf neuer Kleidung, bis zum Gebrauch bewusstseinsunterdrückender oder -erweiternder Substanzen – von Naturprodukten wie Hanf über kultivierte Naturprodukte wie Wein oder andere Darreichungsformen des Alkohols bis zu Psychopharmaka oder anderen Designerdrogen. Neben der Erfüllung des Wunsches nach Genuss haben Sexualität und Drogengebrauch auch die Funktion, zu versuchen, wenigstens vorübergehend das innere Gleichgewicht herzustellen, eins zu sein mit sich und möglichst auch der Umwelt.

Wir brauchen eine Erziehung zur Drogenmündigkeit

Aus der Kulturwissenschaft wissen wir, dass fremde Drogen töten. Je eingebetteter der Konsum von Substanzen in kulturelle Rituale ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Körper und Seele nicht dauerhaft beeinträchtigen. Dabei ist eine Erziehung zur Drogenmündigkeit hilfreich. Dazu gehören Substanz-, Gebrauchs- und Wirkungskunde und eine Reflektion über die Bedingungen des Gebrauchs.

Aus dem Bereich der Spritzdrogen wissen wir, dass sowohl zu reines Heroin – mit dem auf der Szene niemand rechnet – als auch mit den falschen Substanzen gestrecktes besondere Gefahren bergen. Bei den Designerdrogen weiß niemand so recht, was er da raucht, schluckt, spritzt oder snieft. Die fehlende Qualitätskontrolle erhöht die Risiken des Gebrauchs deutlich.

Mohnkapseln

Erziehung zur Drogenmündigkeit statt Drogenverboten (Foto: Manfred Schimmel / pixelio.de)

Je einschätzbarer die Wirkung einer Substanz ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von unerwünschten Zwischenfällen. Wir wissen aber auch, dass es Menschen gibt, die das Schicksal herausfordern, die im Grenzbereich der tödlichen Gefahr agieren. Das gilt im Extremsport ebenso wie bei Drogenkonsum oder gesamtgesellschaftlich im Umgang mit Klima oder Energie. Die Bedingungen des Konsums ebenso wie die Bedingungen, unter denen Sexualität gelebt wird, können Risiken verringern oder vergrößern. Dabei spielen gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle.

Mit dem Angebot an Drogen kommen die meisten Menschen klar. Problematischer oder schädigender Drogengebrauch ist die Ausnahme, kann individuell jedoch sehr viel Leid verursachen, für die Betroffenen und ihre Umfelder. Das gilt genauso für die Sexualität. In dem Bestreben, dieses Leid nicht zuzulassen, Menschen vor sich selbst und vor einem Verhalten zu schützen, das als gesundheitsgefährdend oder schädigend angesehen wird, werden in allen Bereichen immer wieder gesetzliche Einschränkungen gefordert oder verhängt.

Gesund ist, wer noch nicht hinreichend untersucht wurde

Dabei liegt der Diskussion ein Gesundheitsbegriff zu Grunde, der ausschließlich der körperlichen Ebene verhaftet ist. Spötter definieren: Gesund ist, wer noch nicht hinreichend auf Regelwidrigkeiten untersucht wurde. Die Ottawa-Charta der WHO hebt auf das Recht auf Teilhabe und Selbstbestimmung ab, auf Bedingungen, in denen sich gesundheitsfördernde Potenziale des Individuums entfalten können. Neuere Überlegungen fassen es so zusammen: Gesund ist, wer kreativ mit sich und seiner Umwelt umgeht. Ist ein unglücklicher Mensch ohne medizinische Befunde gesünder als ein glücklicher mit einer langen Liste Diagnosen? Ist ein arbeitender Rollstuhlfahrer gesund oder krank? Hängt das Ganze von der Verwertbarkeit im Arbeitsleben oder im sexuellen Alltag ab? Ist ein HIV-infizierter Mensch, der nicht getestet ist, gesünder als ein positiv getesteter? Oder ist es umgekehrt, da ja der Mensch, der um seine Infektion weiß, gesundheitliche Risiken besser vermeiden kann und – wenigstens in unseren Breiten – Zugang zu Gesundheit erhaltenden Therapien hat?

Prohibition und Verbote klammern jedenfalls den ganzen Bereich der seelischen Notwendigkeiten, der Grundbedürfnisse nach Rausch und Leidenschaft, und damit die seelische Gesundheit aus. Dass dies somatische Folgen hat, liegt auf der Hand.

Arbeit

Hängt Gesundheit von der Verwertbarkeit im Arbeitsleben ab? (Illustration: Gerd Altmann / pixelio.de)

Im öffentlichen Raum ist man etwas großzügiger. Krank machende Umwelt- oder Arbeitsbedingungen hat das Individuum im Interesse der Leistungsfähigkeit der Gesellschaft hinzunehmen, wobei die jeweils Herrschenden, wie an der Atomkraftdebatte der letzten Jahre zu sehen ist, das Monopol für sich beanspruchen, Alternativlosigkeit von Konzepten zu postulieren.

In unserer Gesellschaft werden die Leistungsfähigen abgefeiert, und es gibt einen neoliberalen Diskurs, der die Eliten vor dem Prekariat schützen will. Krankheit wird privatisiert. Die Möglichkeit des Ausscherens aus dem Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung federt das für die Besserverdienenden ab. Der Rest muss damit leben, dass notwendige Behandlungskosten etwa infolge von Tätowierungen nicht übernommen werden, notwendige Medikamente von der Verordnungsfähigkeit ausgeschlossen sind, Zuzahlungen fällig werden. Noch einmal ist das Ganze verschärft an der Situation Nichtversicherter zu sehen. Derjenige, der stressbedingt auf der Jagd nach der nächsten Million einen Herzinfarkt bekommt, muss sich wegen dieses Wunsches nicht rechtfertigen. Dass seine Behandlungskosten zu ersetzen sind, versteht sich von selbst.

Die Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen ist willkürlich

Welchen Preis die Masse jenseits der Boni einstreichenden Eliten dafür zahlt, sehen wir in den Maßnahmen zur Rettung der Finanzmärkte. Dabei wird gerne übersehen, dass auch zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit Drogen eingesetzt werden. Der Fußballtrainer Christoph Daum, den ich hier ob seiner homophoben Haltung wahrlich nicht abfeiern will, griff zu Koks. Statt eines Kniefalls und öffentlich demonstrierter Reue wäre vielleicht auch die Erklärung denkbar gewesen, ohne illegale Substanzen hätte er den Druck des Arbeitslebens nicht mehr aushalten können. Andere lassen sich etwas vom Arzt verschreiben, und auch Alkoholmissbrauch ist kein Privileg des Prekariats.

Die Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen ist willkürlich. Psychopharmaka und Alkohol gehören – noch – zu den erlaubten Drogen. Doch ähnlich wie beim Rauchen setzen die Diskussionen ein, den Alkoholkonsum zu erschweren. Alkoholverbote in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf öffentlichen Plätzen werden verhängt. Im privaten Bereich ist der Konsum zulässig. Die Sichtbarkeit jedoch befördert die Verbotsfantasien. Ein Obdachloser kann nur im öffentlichen Raum trinken. Die FDP hat uns eine Debatte beschert, Alkohol aus Hartz-IV-Bezügen herauszurechnen und den Empfängern staatlicher Transferleistungen das Lottospielen zu untersagen. Mit Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und mit Selbstbestimmung hat das wenig zu tun.

Freiheit aushalten

Zur Menschenwürde gehört die Selbstbestimmung (Illustration: Gerd Altmann / pixelio.de)

Intravenös Drogengebrauchende haben in einem erschreckenden Ausmaß als Kinder und Jugendliche seelische und körperliche Gewalttätigkeiten erlebt und sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht.

Vielen Menschen mit Migrationshintergrund wurde von der deutschen Gesellschaft und Politik lange genug deutlich gemacht, dass sie hier auf Dauer nicht erwünscht sind. Asylbewerbern wurden Deutschkurse und Arbeitsmöglichkeiten über lange Zeit verwehrt, um zu verhindern, dass sie hier soziale Netze knüpfen können, die eine Abschiebung bei Ablehnung des Antrags erschweren. Traumatisierte Flüchtlinge werden in die Illegalität gedrängt, weil Folter kein Asylgrund ist.

Schwule Männer haben oft schon als Jugendliche die Erfahrung der Diskriminierung gemacht und ihr Anderssein als mit Schuld- und Scham behaftet erlebt.

Zu den Grundlagen unserer Gesellschaft gehört die zentrale Feststellung des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieses Recht ist nicht an Wohlverhalten geknüpft, sondern gilt universal. Zu ihm gehört die Selbstbestimmung, auch wenn sie von außen betrachtet bisweilen selbstschädigend zu sein scheint. Die Bundesrepublik versteht sich als Sozialstaat. Das heißt in der Konsequenz, dass sie auch den Schwächsten mitzunehmen hat, so wie wir von einer Familie erwarten, dass sie auch beim dementen Großvater nicht auf das alte Konzept der Greisentötung zurückgreift, sondern dafür sorgt, dass ein Leben und Sterben in Würde möglich ist.

Prävention scheitert, wenn sie Nichtleistbares verlangt

Prävention will erreichen, dass das Individuum lernt, mit Risiken umzugehen und zu leben. Sie findet auf mehreren Ebenen statt. Aufklärung und Information, Stärkung gesunderhaltender Ressourcen. Rahmenbedingungen, die die Entfaltung solcher Potenziale ermöglichen, und Hilfe für diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer an den Anforderungen scheitern oder aber Gesundheit und Glück für sich anders definieren, sollten eine Selbstverständlichkeit sein.

Prävention beschränkt sich nicht auf die Reduzierung von oder das Lernen des Umgangs mit Risiken, sondern setzt sich fort in der Begleitung von und Gesundheitsförderung für Menschen, die schicksalhaft oder durch ihren Lebensstil in den Bann von Krankheiten geraten sind. Sie wird immer dort scheitern, wo dem Individuum Nichtleistbares abverlangt wird. Wer sich einmal mit dem Vorsatz der Gewichtsreduktion, Ernährungsumstellung oder der Absicht herumgeplagt hat, ein stressfreieres Leben zu führen, um mehr Zeit für sich und die Pflege von Freundschaften zu haben, sollte Verständnis dafür aufbringen, dass seelisch oder körperlich verankerten Bedürfnissen nicht mit Ge- oder Verboten beizukommen ist.

Verbot

Verbote richten gegen tief verankerte Bedürfnisse wenig aus (Foto: Erich Westendarp / pixelio.de)

Die Konferenz wird in den unterschiedlichsten Bereichen der Frage nachgehen, welcher Veränderungen es bedarf, um den Umgang mit Risiken zu erleichtern. Sie wird dabei im Blick behalten, dass jede Einschränkung Auswirkungen nicht nur auf den unmittelbar gefährdeten Personenkreis hat, sondern auf die gesamte Gesellschaft. Letztendlich geht es um die Erweiterung von Lebensmöglichkeiten und nicht deren Einschränkung. Dass Menschen in Haft der Zugang zu Behandlungs- und Schutzmöglichkeiten vorenthalten wird, die in Freiheit selbstverständlich sind, beschäftigt uns ebenso wie die Folgen einer Drogenprohibition, die durch die Bedingungen der Beschaffung und des Konsums mehr Leid schafft, als sie zu verhindern vorgibt. Vieles, was wissenschaftlich abgesichert ist, kann nicht umgesetzt werden, weil es politisch nicht vermittelbar erscheint, weil wir ein Gestrüpp von Zuständigkeiten haben, das zu völlig unterschiedlichen Umgangsformen mit Suchtkranken etwa in Berliner oder bayerischen Haftanstalten führt. Störfaktoren von außen, wie etwa der juristische Umgang mit einer HIV-Infektion, tun ein Übriges dazu. In vielen Bereichen gibt es bewährte Strategien. Deutschland liegt im internationalen Vergleich mit seinen HIV Infektionsraten im unteren Bereich.

Bei jeder Veröffentlichung der aktuellen HIV-Neudiagnosen bei schwulen Männern setzt eine Diskussion ein, warum in einer Teilgruppe ein Anstieg festzustellen ist. So wurde zum Beispiel die Frage aufgeworfen, was denn etwa die 40- bis 50-Jährigen umtrieb, sich anders als früher zu verhalten. Dabei bedurfte es nur eines Blicks in die Bevölkerungsstatistik, um festzustellen, dass geburtenstärkere Jahrgänge in die nächste Altersgruppe aufgerückt waren. Die Tatsache, dass die höhere Prävalenz bei schwulen Männern auch zu einem erhöhten Infektionsrisiko führt, trotz eines im Durchschnitt deutlich besseren Schutzverhaltens als bei den Heterosexuellen, wird ausgeblendet.

Aber es gibt Nachbesserungsbedarf. Fehlendes Bewusstsein sowohl in den Szenen als auch im Medizinbetrieb für sexuell übertragbare Krankheiten, der Versuch von Krankenkassen, auch bei sexuell Umtriebigen die Kosten einer Hepatitisschutzimpfung abzuwehren, sollen hier nur beispielhaft erwähnt sein. Das fehlende Bewusstsein der Szene für epidemiologische Zusammenhänge, die falsche Verortung der Risiken beim wissenden HIV-Infizierten, dem ein Lotterleben unterstellt wird, statt beim eigenen Lebensstil, all das macht uns zu schaffen.

Der Staat hat kein Recht, zu beurteilen, was mir nützt oder schadet

Ein enger Freund von mir ist alkoholkrank, hat aber seit Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr zu sich genommen. Er wirft sich vor, dass er in die Abhängigkeit geraten ist – das ist mit Scham und Schuld besetzt. Ich kenne seine Geschichte, die ihm nicht erlaubte, schon als Kind oder Jugendlicher einen Psychotherapeuten aufzusuchen, obwohl das bei der ablehnenden Haltung seines Elternhauses zu seiner Homosexualität und seinem Außenseitertum sicher für ihn hilfreich gewesen wäre – jedenfalls, wenn das Elternhaus gleich mit therapiert worden wäre. Er hat mehr als ein Jahrzehnt seine Ohnmacht und seine Verzweiflung an der Welt in Alkohol ertränkt, seine Gefühle sozusagen eingefroren. Und irgendwann kam der Punkt, lebensgeschichtlich zu entscheiden, dass er das nicht länger kann, und sein Leben zu ändern. Es ist doch eine anzuerkennende Leistung und kein Scheitern, eine nicht aushaltbare Lebensphase so zu überbrücken. Man wünscht zwar, er hätte gnädigere Wege für sich finden können, mit der Folge, dass er heute nicht suchtkrank wäre und einen mäßigen genussvollen Alkoholgebrauch praktizieren könnte. Aber der Weg stand ihm nicht offen.

Ich bitte zum Schluss, mir eine persönliche Anmerkung zum Kiffen nachzusehen. Die harten Jahre der Begleitung meines dahinsiechenden Freundes hätten mich fast zerbrochen. Es war kaum möglich, standzuhalten – und noch unmöglicher, dies nicht zu tun. Notdienst in meiner Marburger Kanzlei, Übernachtung und Begleitung in der Frankfurter Klinik nach Jahren des Verfalls, der Erblindung, des Verlusts der Sprache des Freundes waren harter Stoff. Alkohol war mir zu gefährlich. In dieser Situation war ich froh, auf meine früheren Erfahrungen mit Joints zurückgreifen zu können. Sie erlaubten mir, abzuschweifen von der existenziellen Not und dennoch am nächsten Morgen arbeitsfähig zu sein. Natürlich macht Kiffen tendenziell einsam, weil es über die Kommunikation einen leichten Schleier legt. Aber genau das brauchte ich. Freunde, die sich Sorgen um mich machten, taten das wegen der scheinbaren Aussichtslosigkeit der Situation und nicht etwa wegen meines Drogenkonsums. Ganz im Gegenteil. Bürgerliche Paare aktivierten längst eingeschlafen geglaubte Kontakte und lieferten mir die verbotenen Zutaten. Ich bestreite dem Staat das Recht, für mich zu beurteilen, welche Substanzen mir frommen dürfen oder nicht. Die erlaubten jedenfalls hätten mich die Zeit nicht überstehen lassen.

Ich wünsche uns allen eine fruchtbare Konferenz mit Ergebnissen, die wir guten Gewissens nach außen tragen können.


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