Seit sich in dem schleswig-holsteinischen Dorf Sörup das Gerücht verbreitete, Kirsten Zielke sei aidskrank, blieben der Nagelstudio-Betreiberin die Kunden weg. Doch sie will sich nicht kleinkriegen lassen und reagiert mit einer Aufklärungsaktion. Von Axel Schock
So richtig viel los ist in Sörup eigentlich nicht. Wenn nicht gerade das Johannisfeuer entzündet wird oder Touristen zum Besuch des örtlichen Obstmuseums anreisen, geht’s in der kleinen Gemeinde nahe der dänischen Grenze eher beschaulich zu. Umso ungewöhnlicher ist deshalb der Medienrummel, den Sörup gerade erlebt. Gleich dreimal innerhalb einer Woche berichtet allein das NDR-Fernsehen aus der 4.000-Seelen-Gemeinde, flankiert von zwei Artikeln im „Flensburger Tageblatt“.
„Dieses Ausmaß der Aufmerksamkeit hätte ich nie erwartet“, gibt Kirsten Zielke unumwunden zu und ist auch Tage danach noch immer etwas aufgeregt. „Ich wollte ja eigentlich nur mal die bornierten Söruper ein bisschen wachrütteln.“ Und um ihren guten Ruf wie auch ihre berufliche Existenz kämpfen.
„Ihr geht zu einer Aidskranken, um euch die Nägel machen zu lassen?“
Vor drei Jahren war die heute 41-Jährige mit ihrem Lebensgefährten nach Sörup gezogen. Ihrem Nachbarn hatte sie – im Vertrauen – von ihrer HIV-Infektion berichtet. Inzwischen hat sie Dank der erfolgreichen Medikation beste Werte, das Virus ist schon seit einiger Zeit unter der Nachweisgrenze.
2010 machte sie sich beruflich selbstständig. Ihr Nagelstudio lief prima, über die Zeit konnte sich Kirsten Zielke ein treues Stammpublikum aufbauen. Doch das blieb mehr und mehr weg. Warum, erahnte sie schließlich, als sie auf offener Straße von fremden Menschen gefragt wurde, ob sie denn tatsächlich aidskrank sei. Die Quelle des Dorftratsches war offensichtlich besagter Nachbar, der die Kundinnen vor dem Haus mit den Worten abfing: „Ihr geht zu einer Aidskranken, um euch die Nägel machen zu lassen? Habt ihr keine Angst, dass ihr euch was wegholt?“ Zuletzt hielt der gebürtigen Nordfriesin nur noch eine einzige Kundin die Treue.
Der Rufmord hatte allerdings noch weitergehende Auswirkungen. Nicht nur, dass Freundschaften auf die Probe gestellt wurden und auch zerbrachen, ihr Vermieter ließ Kirsten Zielke vorwurfsvoll wissen, dass die neuen Mieter der Nachbarwohnung wieder abgesprungen seien. Das Ehepaar habe Angst bekommen, dass sich seine Kinder anstecken könnten.
Doch so kampflos wollte sie das Feld nicht räumen
„Mir blieb eigentlich nichts anderes mehr, als von hier wegzuziehen“, erzählt Kirsten Zielke. Doch so kampflos wollte sie das Feld nicht räumen. Dafür hat sie schon zu viel Schlimmes in ihrem Leben überstanden: In Hamburg lebte sie lange Zeit auf der Straße. Als sie vor elf Jahren wegen eines Drogendelikts in Haft kam, erfuhr sie dort von ihrer Infektion. Im Knast überwandt sie ihre Sucht und danach versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen. Zu hart hatte sie an ihrer neuen Existenz gearbeitet, als dass sie das Erreichte jetzt so schnell wieder aufgeben wollte.
Kirsten Zielke holte sich Rat bei der Aidshilfe im 80 Kilometer entfernten Kiel. Ein Artikel im Söruper Gemeindeblatt, so ihre Idee, könnte vielleicht helfen, die Gemeindebewohner über HIV aufzuklären. Aidshilfe-Mitarbeiter Björn Ould hatte allerdings eine ganz andere Idee. Er nutzte seine Kontakte zu einer NDR-Journalistin, und mit einem Mal ging alles ganz schnell. „Am Dienstag hatte ich das Gespräch bei der Aidshilfe, Donnerstag kam der Anruf vom NDR, am Montag darauf kamen sie zum Drehen vorbei, zwei Tage später lief der erste Bericht im Fernsehen und daraufhin schrieb das ‚Flensburger Tageblatt’ über die Sache“, schildert Kerstin Zielke ein wenig atemlos die Chronik der Ereignisse.
„Ich hatte Gänsehaut, als ich mich da im Fernsehen sah“
Dass in dieser Woche gerade der Welt-Aids-Kongress in Washington stattfand, hatte den positiven Begleiteffekt, dass gleich in drei unterschiedlichen Sendungen über den Söruper Vorfall berichtet wurde, unter anderem zu bester Sendezeit im Magazin „NDR aktuell“. „Erst ging es um Elton Johns Aids-Engagement, dann um mich. Ich hatte Gänsehaut, als ich mich da im Fernsehen sah“, erzählt Zielke.
Doch bei der Schilderung des ausgrenzenden Verhaltens ihrer Mitbürger wollte sie es nicht belassen. Noch in der gleichen Woche organisierte die Aidshilfe einen Aufklärungsstand, den die Tageszeitung auch ganz pflichtbewusst ankündigte: „Kirsten Zielke und Björn Ould stehen heute von 9 bis 12 Uhr und von 15 bis 18 Uhr vor dem Edeka-Markt Carstensen in Sörup.“
Und die beiden blieben dort nicht allein. Als man zum Ladenschluss den Stand wieder abbaute, hatten über 200 Einwohner Sörups das Gespräch gesucht oder sich Informationen abgeholt. Viele Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde kamen nicht etwa zufällig beim Einkaufen vorbei, sondern hatten sich eigens dorthin auf den Weg gemacht, um ihre Solidarität auszusprechen.
„Ganz rührend war ein älterer Herr, der den Tränen nahe sagte, dass er mir den Rücken stärken wolle. Er hätte vor zehn Jahren seinen Bruder durch Aids verloren“, schildert Kirsten Zielke die Begegnung. „Manche waren konsterniert, dass so etwas in unserem schönen kleinen Sörup überhaupt passieren könne. Ich sagte: Ja, hier leben eben nicht nur gebildete und aufgeklärte Menschen, sondern auch Bornierte und Unwissende.“
„Viele wollten einfach nur wissen, wie ich mich angesteckt habe“
Die Mitbürger über die Krankheit aufzuklären und mit Mythen und Gerüchten aufzuräumen, darum war es Kirsten Zielke und Björn Ould mit ihrer Standaktion vor allem auch gegangen. Das außerordentlich Erfreuliche: dieses Angebot wurde tatsächlich angenommen. „Viele wollten einfach nur wissen, wie ich mich angesteckt habe und wie es ist, mit dem Virus zu leben.“
Eine Frau habe tatsächlich geglaubt, man könne sich durch das gemeinsame Benutzen eines Glases oder durchs Küssen anstecken, berichtet Zielke. Dass mit der heutigen Medikation die Viruslast eines HIV-positiven Menschen gen Null gesenkt werden kann, sei allen Besuchern des Infostandes neu gewesen. „Bis auf einen – dessen Sohn arbeitet in Berlin mit Hepatitis- und HIV-Patienten.“
Beim Kirchengemeindefest wird sie ein weiteres Mal Rede und Antwort stehen
Noch ist es zu früh, um den langfristigen Erfolg von Kirsten Zielkes mutigem Schritt wirklich abschätzen zu können. Sie muss unterdessen noch das eine oder andere Interview geben und Dutzende von unterstützenden Nachrichten auf Facebook beantworten, die ihr aufgrund der Fernseh-Berichterstattung aus ganz Schleswig-Holstein geschickt werden. Bei einem Kirchengemeindefest im September wird sie ein weiteres Mal mit einem Infostand Rede und Antwort stehen. Und vielleicht, so hofft Kirsten Zielke, kommen dann auch wieder die Söruperinnen in ihr Studio, um sich von ihr die Nägel schick machen zu lassen.