Assistenzarzt Peter S. ist zutiefst verunsichert. Seine vor gut einem dreiviertel Jahr begonnene Arbeit macht ihm großen Spaß, allerdings hat er nach einem anfänglich guten Kontakt zu seinen Kollegen zunehmend das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Er wird nur noch wenig in private Unterhaltungen einbezogen und die Informationen, die er erhält, beschränken sich gerade auf das Notwendigste. In den Mittagspausen findet er nur selten einen Platz am Tisch seiner Kollegen und auch hier keinen Anschluss. In seiner Not bittet S. seinen Chef, Prof. N., um ein Gespräch und schildert ihm seine Not. N. hört ihm intensiv zu und eröffnet ihm dann, dass er den Entfremdungsprozess zwischen S. und seinen Kollegen selbst bereits beobachtet hat. Auf die anschließende Frage seines Chefs, was denn aus seiner Sicht ursächlich sein könne, hat S. keine Antwort. Im Laufe des weiteren Gesprächs wird für S. jedoch deutlich, was leider viel zu wenige Berufsanfänger in der Klinik, aber auch in anderen Tätigkeitsbereichen des Gesundheitswesens im Umgang mit ihren Kollegen beachten: die ungeschriebenen Regeln des beruflichen Miteinanders. Jedes Krankenhaus hat seine eigenen Regeln, die den Umgang der Mitarbeiter untereinander bestimmen. Diese Regeln haben sich häufig im Laufe der Zeit zu einer Art „interner Gesetzgebung“ entwickelt, können sich aber auch verändern, z. B. wenn Führungskräfte wechseln oder die Struktur der Belegschaft verändert wird. Wer gegen dieses Regelwerk oder Teile davon verstößt, grenzt sich aus. Deshalb besteht die erste und wichtigste Aufgabe von Berufsanfängern oder neuen Mitarbeitern immer darin, diese Regeln zu erkennen und das eigene Verhalten darauf abzustimmen. Im Einzelnen geht es bei diesen „Regelwerken“ um folgende Aspekte:
– Beachtung der Informations- und Kommunikationswege: Kliniken funktionieren nur mit Hilfe eines reibungslosen Informationsaustausches. Wichtig ist, hierbei zu erkennen, wie dieser organisiert ist, vor allem, wer wann und in welcher Art einbezogen werden muss. Diese „Informationshierarchie“ hatte S. u. a. nicht beachtet und bei seiner Arbeit Kollegen einfach übergangen, die ihm das übel nahmen.
– Zurückhaltung mit Kommentaren und Vorschlägen: Etablierte Mitarbeiter reagieren ausgesprochen allergisch, wenn neu hinzukommende Kollegen ihnen sagen, wie sie ihre Arbeit besser, leichter oder schneller erledigen können. Eine neue Sichtweise von Prozessen und Strukturen ist grundsätzlich positiv zu bewerten und kann hilfreich sein, beispielsweise, um Betriebsblindheit zu überwinden oder zu verhindern. Doch „Newcomer“ sollten sich mit Veränderungsvorschlägen möglichst zurückhalten, insbesondere, wenn diese zu forsch oder besserwisserisch vorgetragen werden. Und genau hier lag auch eines der Probleme von S., der nach Meinung seines Vorgesetzten besser alles beobachtet hätte als bei der erst besten Besprechung bestehende Regelungen als ineffizient zu qualifizieren.
– Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Ordnung: Gerade als „Neuer“ steht man unter besondere Beobachtung. Der Vorgesetzte möchte erkennen, ob der Mitarbeiter in der Lage ist, seine ihm übertragenen Aufgaben adäquat zu erfüllen. Den Kollegen ist wichtig, wie er sich in die Gemeinschaft einführt. Die Grundlage eines positiven Eindrucks bilden die Verhaltensweisen „Pünktlichkeit“, „Verlässlichkeit“ und „Ordnung“, die gleichzeitig Indikatoren für ein professionelles Arbeiten sind. Gerade zu Beginn einer Zusammenarbeit kommt es darauf an, diszipliniert Termine und Zusagen einzuhalten und für Ordnung zu sorgen, sei es am eigenen Arbeitsplatz oder bei anderen Anlässen, z. B. keine halbvollen Tassen in fremden Büros stehen zu lassen. S. hatte – als weiterer Fehler – die von ihm beobachtete Lockerheit des Umgangs unter den Kollegen auf alle Handlungsbereiche übertragen und erschien zu den Teambesprechungen meist einige Minuten zu spät, nicht ohne seinen „Auftritt“ auch noch mit einer vermeintlich witzigen Bemerkung zu unterstreichen.
– Wertschätzung der Kollegen: Neben einem freundlich-offenen Zugehen auf die neuen Kollegen wird die Wertschätzung zunächst über die Sie-Anrede vermittelt. Neue Mitarbeiter sollten sich im Hinblick auf ein „schnelles Du“ nach Möglichkeit zurückhalten. Auf diese Weise wird auch vermieden, zu schnell einer Gruppierung oder einem Lager innerhalb der Organisation zugeordnet zu werden. Wertschätzung drückt sich aber auch im Grußverhalten aus. Ist man neu, sollte man – so die ungeschriebene Benimmregel – möglichst viel und vor allem zuerst grüßen. Die Begrüßung sollte dabei allen gelten, die man trifft, unabhängig davon, ob es sich um den Pförtner, eine Schwester oder den Chefarzt handelt. Wie S. von seinem Chef erfuhr, war er bereits als „karriereorientierter Grüsser“ bekannt, weil er nur Gleich- oder Höherrangige beachtete.
– Zurückhaltung und Vertraulichkeit: In jeder neuen Gemeinschaft stößt man auf Personen, zu denen sich relativ rasch eine beidseitige Sympathie ergibt. In dieser Situation ist man u. U. schnell versucht, persönliche Dinge, aber auch Informationen über Kollegen allzu offen preiszugeben. Das kann aber – kennt man die Person oder Personen noch nicht genau – unmittelbar zu Problemen führen. Ebenso sollte man auf Fragen, wie man denn das Verhalten von Frau X oder die Aussage von Herrn Y bewertet, möglichst zurückhaltend und unverbindlich reagieren. Ebenso ist es nicht empfehlenswert, Fehler anderer öffentlich „an den Pranger zu stellen“.
Ein optimaler Umgang mit Kollegen kann dann erreicht werden – so der Rat von N. an S. – wenn man sich selbst und sein Verhalten selbstkritisch und vor allem aus dem Blickwinkel der Kollegen sieht. Das verhindert, die ungeschriebenen Regeln des Kollegenkreises zu verletzten. Ist man unsicher, hilft vor allen Dingen eines: Fragen stellen.