Die „Kinder-Akademie“ ist mittlerweile ein wichtiger Bestandteil der jährlichen Treffen HIV-positiver Migrantinnen und Migranten. Über das innovative Projekt berichtet Axel Schock
Premierenfieber im Festsaal der Bildungsakademie Loccum. Das ganze Tagungswochenende haben die Kinder an ihrem kleinen Stück gearbeitet, Kostüme gebastelt und geprobt. Entsprechend aufgeregt ist die kleine Schar vor ihrem Auftritt. Und die Eltern im Zuschauersaal sind nicht weniger gespannt darauf, was ihr Nachwuchs für das Abschlussfest des Migranten-Positiventreffens vorbereitet hat.
„Die Kinder waren so stolz darauf, vor ihren Familien und so vielen fremden Menschen ihre Show aufführen zu können und dabei eine solch große Unterstützung zu erleben. Es war erstaunlich, wie ernsthaft und pflichtbewusst sie daran gearbeitet haben“, begeistert sich Melike Yildiz. Sie ist selbst Mutter und hat das Projekt „Kinder-Akademie“, das bereits zum dritten Mal stattfand, gemeinsam mit der Erziehungswissenschaftlerin und Familientherapeutin Barbara Lutz ins Leben gerufen.
Kinder verdienen die gleiche Aufmerksamkeit wie Erwachsene
Melike hat eine Erklärung für den Enthusiasmus der Kinder: „Bei früheren Treffen haben wir Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder angeboten – und ihnen damit ungewollt das Gefühl vermittelt, nicht wirklich dazuzugehören. Doch sie verdienen unsere volle Aufmerksamkeit, denn auch sie sind direkt oder indirekt von HIV betroffen.“ Barbara Lutz sieht noch einen weiteren Aspekt: „Wenn man bei einem Migrantentreffen Vielfalt fördern möchte, muss dies auch für junge Menschen gelten. Sonst tut man selbst, was man bei anderen kritisiert: Man wertet sie ab und nimmt sie nicht ernst.“
Zwischen sechs und sechzehn Jahre alt waren die zehn Jungs und Mädchen, die sich in diesem Jahr in der „Kinder-Akademie“ zusammengefunden haben – manche von ihnen selbst HIV-positiv, manche allenfalls ahnend, dass ihre Eltern unter einer Krankheit leiden, von der nicht alle erfahren dürfen.
„HIV ist im Leben dieser Kinder präsent, selbst wenn sie nicht konkret darüber Bescheid wissen, dass ihre Eltern infiziert sind. Sie sehen, dass ihre Eltern regelmäßig Tabletten schlucken, und erleben, dass sie vielleicht immer wieder mal schwach oder krank sind. Sie bekommen vielleicht Antworten auf ihre Fragen, aber viele werden diese Antworten nicht als ausreichend empfinden“, beschreibt Melike Yildiz die Situation der Heranwachsenden.
Wie aber arbeitet man mit einer Gruppe, wenn das Wissen der Kinder um das Virus so unterschiedlich ist? Eine intensive, auf den konkreten Fall bezogene Auseinandersetzung mit der Infektion der Kinder oder ihrer Familienangehörigen wäre in diesem Rahmen gar nicht möglich, erklärt Barbara Lutz. Abgesehen davon, dass die meisten Eltern dazu gar nicht ihre Zustimmung gäben, sei dies auch nur im Rahmen einer monatelangen kontinuierlichen Betreuung durch einen Psychologen oder eine Psychologin zu bewerkstelligen.
Auch ein starker Löwe kann krank werden
„Wir reden nie direkt über HIV, sondern arbeiten gemeinsam an einem Kunstprojekt und benutzen Symbole“, erläutert sie ihr Konzept. In diesem Jahr sollten sich die Kinder ihrer eigenen Stärken und ihrer Würde bewusst werden und ihre Kräfte zeigen – symbolisiert durch das Bild des Löwen. „Das ist eigentlich ganz harmlos und doch ganz dicht am Thema“, sagt Barbara Lutz: Auch ein Löwe könne wie jedes andere Tier krank werden.
„Ohne die Besonderheiten von HIV zu vernachlässigen, sagen wir den Kindern: eine Krankheit ist niemals eine Strafe. Infektionen oder auch schwere Verletzungen gehören zu den Herausforderungen des Lebens, mit denen wir umgehen müssen, genauso wie mit Diskriminierungen, sei es aufgrund meiner Hautfarbe, meiner Behinderung oder Herkunft“, erklärt Barbara Lutz.
Kinder erleben auch Konflikte innerhalb der Familie
Die Kinder erleben allerdings nicht nur Anfeindungen von außen, sondern müssen auch Probleme innerhalb der Familie bewältigen: Sie beobachten, wie ihre Eltern mit der neuen Kultur, finanziellen Sorgen, vielleicht auch Phasen von Hoffnungslosigkeit kämpfen und sich ihnen gegenüber nicht immer gerecht und feinfühlig verhalten. In den Workshops lernen die Kinder, wie sie mit solchen Enttäuschungen umgehen und auch verzeihen können. Auf diese Weise dient die Kinder-Akademie nicht nur der inneren Stärkung der Kinder, sondern strahlt auch positiv in die Familien hinein.
„Mit vielen kleinen Bemerkungen, die Melike und ich gegenüber den Kindern einstreuen, stärken wir den Respekt vor den Eltern, die sich solch großen Problemen stellen“, sagt Barbara Lutz. Dies trage auch zu einer positiven Entwicklung des Verhältnisses zwischen Kindern und Eltern bei.
Positive Rückversicherung für die Eltern
„Außerdem setzen wir damit auch ein wichtiges Signal gegenüber den Eltern, dass wir ihre Kinder und deren Zukunft und damit auch die Familie als Ganzes ernst nehmen und wertschätzen“, fährt Lutz fort. Für die Eltern sei es wichtig, zu erfahren, dass man in der Kinder-Akademie intensiv mit ihren Kindern arbeitet dass ihre Kinder auf einem guten Weg sind. „Oftmals fühlen sich die Eltern sehr verunsichert, ob sie mit ihrer Erziehung in einem fremden Land und inmitten einer anderen Kultur alles richtig machen, und sind für eine entsprechende Rückversicherung äußerst dankbar“, erläutert die Therapeutin.
Auch für Tanja Gangarova, DAH-Referentin für Migration, sind diese Workshops ein wichtiger Beitrag für die Zukunftsentwicklung der Familien: „Wir wissen längst, wie wichtig es ist, Kindern zu ihrer Stärkung frühzeitig Raum zu geben für den Ausdruck ihrer Bedürfnisse und Interessen, um sie so auf ihrem Weg zu Teilhabe und Integration zu unterstützen.“
Welche Früchte diese Workshops tragen, konnten alle Beteiligten schon nach den ersten beiden Kinder-Akademien beobachten: Nicht nur Eltern, sondern auch Kinder schließen Freundschaften, die auch über die Migrantentreffen hinaus weiter gepflegt werden. Vor allem aber, sagt Barbara Lutz, erleben die Kinder diese Tage wie ein großes Familientreffen und als unglaubliche Rückendeckung: „Sie lernen: Egal, was mir im Leben auch Schlimmes zustoßen kann – ich bin damit nicht allein.“
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