Palliativ-Kasuistik – Teil 2

Unsere Patientin – nennen wir sie der Einfachheit einfach Frau Müller – liegt also im Klinikum der Zentralversorgung auf einer orthopädisch / unfallchirurgischen Station. Inzwischen hat man herausgefunden, dass der Primärtumor in der linken Brust zu suchen ist (damit spinne ich das Fallbeispiel einfach weiter und hoffe, Orthopaedix ist mir nicht böse deswegen).
Außerdem hat man auch die Art der Zellen genauer bestimmen können. Anhand dessen hat man dem ganzen Geschehen einen Namen geben können. Genau gesagt handelt es sich dabei um eine ziemlich lange und für den Laien eher abstrus wirkende Formel. Die soll uns jetzt nur am Rande interessieren.
Wichtiger ist das Ergebnis der Tumorkonferenz:
Aufgrund des fortgeschrittenen Geschehens kommt eine Operation nicht mehr in Frage.
Möglich sind noch eine Chemotherapie, sowie eine palliative Bestrahlung der Skelett-Metastasen, insbesondere der Wirbelsäule. Ergänzend kommen noch eine Hormontherapie sowie eine Behandlung mit sogenannten Bisphosphonaten in Frage.
Und außerdem – da sind sich alle Teilnehmer der Tumorkonferenz einig – soll das Palliativ-Team frühzeitig mit eingebunden werden.
Noch am selben Nachmittag führt die junge Stationsärztin ein langes Gespräch mit der Patientin. Diese starrt die meiste Zeit über nur geradeaus und nickt wie geistesabwesend.
Zur selben Zeit füllt der engagierte PJ-Student am Stationscomputer ein Formular aus und bittet um ein palliativmedizinisches Konsil (wir unterstellen mal, dass wir uns in einem von den ganz wenigen fortschrittlichen Krankenhäusern befinden, wo die EDV-Abteilung tatsächlich eine Unterstützung ist und so etwas möglich macht – in geschätzten 99 Prozent aller deutschen Krankenhäuser werden diese Formulare noch handschriftlich auf Papier ausgefüllt).
Wenige Minuten später ruft der Kollege von der Palliativstation zurück. Er verspricht, gleich heute noch vorbeizukommen und schaut sich inzwischen schon einmal die elektronische Krankenakte der Patientin an:
Müller, Erna, geboren am geboren am 13. Juli 1962.
Und unser Kollege liest weiter: Natürlich hat der aufmerksame PJ’ler eine ausführliche Sozialanemnese erhoben und alles schön dokumentiert (in unserem Krankenhaus wird so etwas bekanntlich immer gleich in den PC eingegeben, handgeschmierte Anamnesebögen gibt’s schon lange nicht mehr): Unsere Patientin ist gelernte Frisörin und Inhaberin eines eigenen Salons mit mehreren Angestellten.
Sie ist geschieden und hat zwei gerade erwachsene Kinder. Der neunzehnjährige Sohn hat gerade sein Studium begonnen, die zweiundzwanzigjährige Tochter hat letztes Jahr ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin abgeschlossen, vor ein paar Wochen geheiratet und ist jetzt schwanger. Außerdem kümmert die Patientin sich um um ihre pflegebedürftige, grenzwertig demente, fünfundachtzigjährige Mutter.
Wichtige Vorerkrankungen sind nicht dokumentiert.
Frau Müller war anscheinend bislang immer gesund gewesen. Jedenfalls ist sie offenbar jahrzehntelang nicht zum Arzt gegangen. Ach ja, natürlich, bevor wir es vergessen: sie raucht. Zwanzig Zigaretten am Tag, seit ihrem sechzehnten Lebensjahr.
Unser Kollege überfliegt noch kurz die Informationen zur aktuellen Behandlung – Schmerzmedikation wegen der Rückenschmerzen, ein Antidepressivum, ein Schlafmittel – und macht sich dann auf den Weg… und dabei überlegt er sich, was ihn wohl sonst noch interessieren könnte…

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