Unser palliativmedizinisch geschulter Kollege hat sich also auf den Weg zur Station gemacht, auf der Frau Müller liegt. Er hat noch einmal die Krankenakte durchgeblättert und mit Stationsärztin und Pflegepersonal gesprochen. Jetzt klopft er an der Zimmertür, wartet einen Moment, tritt ein, stellt sich höflich vor und setzt sich zu Frau Müller ans Krankenbett.
“Guten Tag Frau Müller, zu Beginn unseres Gespräches würde ich gerne von Ihnen erfahren, was Sie über die ganze Sache (manchmal ist es sinnvoll, den Begriff “Krankheit” zu vermeiden, aber das ist Geschmacksache. Platte Euphemismen sind sicher genauso fehl am Platz.) wissen. Was haben die Kollegen Ihnen denn bereits gesagt?”
Die Patientin zuckt mit den Achseln. Schaut ins Leere.
“Eigentlich gar nichts!”
Gut, wir wissen inzwischen, dass das nicht stimmt. Mehrere Kollegen haben mehrfach ausführlich mit ihr gesprochen. Das ist in der Krankenakte gut dokumentiert.
“Gut, Frau Müller, aber Sie wissen, warum Sie hier sind?”
Die Patientin nickt.
“Ja, wegen einer Leberpunktion…”
“Sie wissen, was dabei herausgekommen ist?”
Die Patientin nickt.
“Ich soll eine Chemo bekommen. Und Bestrahlung.”
Aha, also doch! Sie erinnert sich. Was weiß sie? Wie viel von dem, was man ihr in den letzten Tagen gesagt hat, hat sie behalten? Was will sie wissen? Was will sie nicht wissen?
Hat sie nicht auch ein Recht dazu, bestimmte Dinge nicht wissen zu wollen? Oder gibt es so etwas wie eine ärztliche Pflicht, ihr jetzt hier und heute und morgen und immer wieder reinen Wein einzuschenken und dies nach Möglichkeit auch schriftlich zu dokumentieren, schon aus “rechtlichen Gründen”?
Für heute zumindest belässt es unser Kollege bei Unverbindlichkeiten.
Mit dem Versprechen, wieder zu kommen, verabschiedet er sich.