Wahlversprechen oder Zeitnotwendigkeit?
Ein Beitrag von Franz Sitzmann
Erinnern Sie sich noch? Pflegenden wurde von den für unser Krankheitswesen Zuständigen, im derzeit üblichen Schönsprech „Gesundheitspolitiker“ genannt, schon viel zugesichert. 2011, das Jahr der Pflege!!! Es sollte ein gutes Jahr für Pflegebedürftige, ihre Angehörigen und die Pflegeberufe werden. Groß angekündigt durch den damaligen Gesundheitsminister, Dr. med. Philipp Rösler plus „Pflegedialogen“ mit Berufsverbänden, Gewerkschaften und Lobbygruppen. Den Einladungen in das Ministerium folgte Ernüchterung. Dem Reden folgten wieder einmal keine Taten. Und diese Form der Beruhigungspolitik beobachtet der Zeitbeobachter seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In den 70er-Jahren waren der Römerberg und die Festhalle in Frankfurt/Main Lokalitäten unserer Proteste. Durch Dortmund schob er Krankenbetten im Protestzug in den 80er-Jahren zur Westfalenhalle…
Das Verhaltensprinzip, das die bundesrepublikanische Politik seit Jahrzehnten Pflegenden gegenüber praktiziert, heißt: durchwurschteln. Kein Wunder, dass dabei der täglich zu erlebende extreme Mangel an Pflegefachpersonen herauskommt. Vier Problembereichen werden nachstehend mit Pflegegesetzmäßigkeiten ergänzt, denen sich Aufrufe an uns alle zur Aktivierung der Öffentlichkeit anschließen.
Mangelnder Schutz des Patienten, wenn zu wenige Hände zu viele Kranke versorgen
Pflegegesetzmäßigkeit: Pflegerische Aufgabe ist es, den Patienten zu schützen!
Zahlreiche internationale Studien belegen, dass eine Unterbesetzung im Pflegedienst das Risiko für Krankenhauspatienten erhöht, schwere Komplikationen zu erleiden und daran unter Umständen zu sterben. Es sind vielfach vermeidbare Schäden durch Stürze, Druckgeschwüre, Medikationsfehler, krankenhauserworbene Infektionen wie Pneumonien, Harnwegsinfektionen, Schmerzen, entbehrliche Fixierungen, zwangsweise Ernährung durch PEG usw. Die Sterberate im Krankenhaus wird gesteigert.
Um vermeidbare Fehler zu reduzieren, hilft es keinesfalls, lediglich die Zahl der Hände zu erhöhen. Die Arbeitsbedingungen und die Zahl der festangestellten Pflegefachkräfte müssen verbessert werden, um die Berufsverweildauer zu erhöhen und eine sinnbringende Patientenarbeit bis ins hohe Berufsalter zu ermöglichen.
Im internationalen Vergleich zeigt sich eine deutliche Unterbesetzung in den deutschen Kliniken. So liegt laut OECD die Zahl der Mitarbeiter in Krankenhäusern je 1.000 Einwohner in Finnland, Frankreich, Irland, Österreich, der Schweiz und den USA um 50 bis 60 Prozent über der in Deutschland.
Selbst zu dem in 2008 von der Bundesregierung in Aussicht gestellten Sonderprogramm zur Finanzierung von 21.000 zusätzlichen Stellen im Pflegedienst der Krankenhäuser konnte 2012 nicht nachvollzogen werden, ob die Krankenhäuser tatsächlich ihren Stellenplan in der Pflege erhöht haben. Vielfach besteht der Verdacht, dass lediglich befristete Stellen in Dauerstellen umgewandelt wurden.
Weisen Sie die Öffentlichkeit darauf hin: Zeigen Sie gegenüber Ihren Patienten die negativen Folgen unzureichender Stellenbesetzung auf, argumentieren Sie so auch gegenüber Ihren Freunden, Ihrer Familie.
Nur Bildung wird uns aus der Misere retten
Pflegegesetzmäßigkeit: Pflegende benötigen für ihre Arbeit ein hohes Maß an Bildung, Fachwissen, Erfahrung und humane Sozialfähigkeiten.
Ich kenne keinen Klinikleiter oder Pflegedienstleiter, der nicht die hohe Bedeutung der Pflege für seine Patienten und sein Krankenhaus hervorhebt und wertschätzend anerkennt. Auch Politiker sprechen in Sonntagsreden darüber.
In allen möglichen Fortbildungen, zumal der Krankenhaushygiene, wird die alltägliche Zusammenarbeit der Berufsgruppen, die kollegiale Atmosphäre als wichtiges Gut, ökonomische Funktion und Ziel zur Prävention krankenhauserworbener Infektionen hervorgehoben. Warum scheitert die interprofessionelle Zusammenarbeit allzu oft im alltäglichen Klein-Klein der „Schnittstellen“?
Es fehlt an Bildung und Anerkennung der Fähigkeiten der Pflegefachkräfte nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Klinikalltag. Längst sollten wir unseren europäischen Nachbarn nacheifern und die akademische Ausbildung zur “Generalistischen Pflegefachkraft” entwickeln. Wie oft waren schon Politikerversprechen zu hören, dass die Pflegeausbildung in Deutschland vor einem Umbruch stehe? Ständig äußern sich die Lobbysprecher anderer Berufe und Interessen u. a. aus Finanzierungsgründen gegen diese Berufsreform.
Alfred Herrhausen, der 1989 ermordete Vorstandssprecher der Deutschen Bank und Förderer der Universität Witten/Herdecke ermahnte einmal mit dem folgenden Satz: „Wir müssen das, was wir denken, sagen. Wir müssen das, was wir sagen, tun. Wir müssen das, was wir tun, dann auch sein.“
Weisen Sie die Öffentlichkeit darauf hin: Es ist nicht das fehlende Geld, die Ausbildungsreformen im Pflegeberuf verhindern, es sind eindeutige Lobby- und Machtinteressen. Lassen Sie uns vehement und mit Konsequenz die Ausbildungs- und Berufsreform fordern und entwickeln, um Patienten gute Pflege bieten zu können. Dann wird diese Arbeit Begeisterung auslösen und Spaß machen.
Engagieren wir uns mit den Bürgern und stellen wir Forderungen zu unserem berufspolitischen Prozess
Pflegegesetzmäßigkeit: Wir leben in einem reichen Land, Pflegende sind nicht Ursache der „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“, unser Geld ist unfair verteilt.
Beispiel für erfolgreiche Berufspolitik sollte die Berufspolitik unserer unmittelbaren Berufspartner, der Ärzte, sein. Mit welchen Mitteln gelingt es ihnen seit Jahrzehnten, sich ihre gesellschaftliche Anerkennung und höhere Tarifzahlungen zu verschaffen? In der Klinik wie als niedergelassener Arzt verschaffen sie sich durch Streik aus Prinzip, z. B. der Aktion „Praxis ohne Mitarbeiter“ den Erfolg. Selbst nach schließlich erfolgreichen Verhandlungen mit den Kassen und mindestens 1,15 Milliarden Euro höheren Honoraren gehen sie zu Tausenden Mitte Oktober 2012 mit ihren Angestellten streikend auf die Straße und anschließend sind die für das Krankheitswesen politisch Zuständigen voll des Lobes ob des Verhandlungsergebnisses. Dabei blieben die Praxen geschlossen und die Wartezeiten für Sozialversicherte auf einen Arzttermin dehnen sich weiter…
Im Bundeswahljahr ist es angebracht, dass Pflegende die Chancen des „UmFAIRteilen für Pflege“ (s. Foto) erkennen, sich engagieren und ihre Forderungen unmissverständlich klar machen.
In Aktionen, initiiert durch zivilgesellschaftliche Organisationen unter anderem durch Gewerkschaften, Parteien und Globalisierungskritiker forderten bereits Zehntausende
– höhere Steuern für Reiche und
– mehr Solidarität und eine
– Vermögensabgabe. Als zentrale Forderungen stellten sie eine dauerhafte Vermögenssteuer, eine einmalige Vermögensabgabe, die wirksame Bekämpfung von Steuerflucht und ein Abbau der Staatsverschuldung.
Nutzen Sie regionale Initiativen und bringen Sie Ihren Protest auf die Straße. Dazu passt ergänzend ein Zitat von Hilde Steppe (1991): „Wir müssen uns einmischen, und zwar sehr offensiv…“.
Weisen Sie die Öffentlichkeit darauf hin: Angemessene Pflege lässt Leid verhindern und Geld sparen.
Literatur:
Anonym. Alfred-Herrhausen-Gesellschaft; URL: http://www.alfred-herrhausen-gesellschaft.de/28.html (Zugriff vom 12.10.2012)
– Sitzmann, F. Stellungnahme zum Entwurf einer Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Berufe in der Krankenpflege. Die Schwester/Der Pfleger 10/1982
– Sitzmann, F. Überlegungen zur Verfassungskonformität des Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege. Die Schwester/Der Pfleger 12/1982
– Sitzmann, F. Kritische Anmerkungen zur Anrechnung der Krankenpflegeschüler auf den Stellenplan. Die Schwester/Der Pfleger 9/1982
– Sitzmann, F. Hygiene daheim. Hygienisches Arbeiten in Alten- und Pflegeheimen und in der häuslichen und rehabilitativen Pflege. Verlag Hans Huber, Bern 2007
– Sitzmann, F. Ich habe ihr einen Backenzahn herausgebrochen und fühle mich miserabel –
aber meine Schuld verschweige ich. In: Aktionsbündnis Patientensicherheit (Hrsg.) Aus Fehlern lernen – Profis aus Medizin und Pflege berichten. Witten/Herdecke (2008)
– Sitzmann, F. Mutige Bekenntnisse: Ärzte und Pflegende berichten über Fehler. Gesundheit + Gesellschaft. AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft 11 (2008)4:26
– Sitzmann, F. Pro und Contra: Patientensicherheit – offen zu Fehlern stehen? Die Schwester/Der Pfleger 47 (2008) 6:512-513
– Sitzmann, F. Fehlervermeidung – vom menschlichen Irren und lebensrettenden Lernen. Haben wir im Krankenhaus nichts zu melden? intensiv – Fachzeitschrift für Intensivpflege und Anästhesie 17 (2009) 6: 308-310
– Sitzmann, F. Patientensicherheit auf ICU „Wir brauchen eine offene Lern- und Fehlerkultur“. PflegenIntensiv (2009) 4:1-5
– Sitzmann, F. Wie lange noch? Ständige Berichte zu Fehlern in der Pflege, Komplikationen und anderem Ungemach. NOVAcura – Schweizer Fachverband für Pflege und Betreuung (2010) 3:12-13
– Sitzmann, F. Bis zu 30 Prozent der Infektionen sind vermeidbar – Hygiene erfordert qualifiziertes Personal und umfassende Aufklärung auch der Patienten. führen & wirtschaften 27 (2010) 5: 478-481
– Sitzmann, F. Infektionsprophylaxe: Hygiene erfordert ausreichend qualifizierte Klinikmitarbeiter. Die Schwester/Der Pfleger (2010) 49: 962-967
– Sitzmann, F. Hygiene Kompakt. Kompaktes Kurzlehrbuch für eine professionelle Heim- und Krankenhaushygiene. Verlag Hans Huber, Bern 2007
– Steppe, H. Pflege in der Krise – Irrwege von gestern – Auswege für morgen. In: Seidl, E. (Hrsg) Zweites Symposium Pflegeberufe – Entwicklung und Perspektiven. Wilhelm Maudrich, Wien 1991
Franz Sitzmann, Berlin (12.10.2012)