Arzt an Bord? Nicht mehr nötig!

Ja, ich hatte schon so etwas wie eine Vorwarnung, als mein Zug mit zwanzig Minuten Verspätung in Bad Dingenskirchen eintraf.
Ein erfahrener Eisenbahnbenutzer versorgt sich in so einem Fall tunlichst am Bahnhofskiosk noch schnell mit ausreichend Proviant. Längere Durst- und Hungerstrecken sind nicht auszuschließen. Unser Regionalzug hat natürlich selbstverständlich keinen Speisewagen.
Naja. Verspätungen sind bekanntlich immer sehr kommunikativ.
Bald komme ich mit einem tätowierten Jüngling ins Gespräch, auf dem Weg zu einem Auftritt, Pardon Sportwettkampf: er ist nämlich Gewichtheber und fährt zur deutschen Meisterschaft. Wer weiß, vielleicht kommt er ja noch ganz groß raus!
Naja. Jetzt telefoniert er erstmal mit seinem Trainer und dann mit seinem Manager und Kaderführer, und wie das alles heißt und ich suche mir einen ruhigeren Platz, döse eine Weile vor sich hin und wache auf, als der Schaffner die Ansage macht für den Anflug auf Sankt Anderswo, da muss ich umsteigen und wenn ich mich beeile und ganz viel Glück habe schaffe ich vielleicht noch…
“…Ausstieg in Fahrtrichtung links!” sagt der Schaffner, und dann gibt es einen Ruck.
Stillstand.
Knacken im Lautsprecher.
“Guten Tag meine Damenundherren…. ist hier vielleicht ein Arzt an Bord?”
Na, dann schauen wir mal. Unter bewundernden Blicken meiner Mitreisenden mache ich mich auf den Weg in den letzten Waggon.
Der Zugchef hat eine orangene Warnweste angezogen und steht in der hintersten Tür.
“Was is’n los?”
Er seufzt.
“Wir haben soeben jemanden überfahren!”
Er lugt vorsichtig nach draußen. Telefoniert. Schüttelt den Kopf.
“Zu spät!”
Dann berichtet er:
“Wir haben gerade einen Bahnhof passiert. Da ist jemand vom Bahnsteig gesprungen. Aufgrund des langen Bremsweges sind wir aber inzwischen fast einen Kilometer weiter…”
“Und jetzt?”
Der Zugchef lächelt dünn.
“Aus Erfahrung sage ich Ihnen: das kann dauern!”
Wir bleiben also erstmal stehen.
Rechts und links von uns sind Schrebergärten, weiter weg ein kleines Wäldchen, Nieselregen…
Zugchef macht seine Durchsage. Meine Damenundherrn, ich bitte Sie um etwas Geduld…
Die meisten Riesenden sind inzwischen aufgestanden und stehen im Gang herum. Schauen mehr oder weniger ratlos in die Gegend und telefonieren.
Derweil rollt am Bahndamm das erste Feuerwehrauto an. Und noch eins, und noch eins, und Rettungsdienst, und Polizei, alle sind da, ganz großes Kino.
Feuerwehrleute sichern mit Seilen einen Zugang von der Straße zum Bahnsteig, die Leute vom Rettungstrupp klettern hinauf und wenige Minuten später wird der Lokführer hinauseskortiert und in den wartenden Krankenwagen gebracht.
Vor der einzigen geöffneten Tür diskutiert der Zugchef mit den Einsatzkräften und mit Reisenden, die aussteigen wollen, aber nicht dürfen.
Einer schafft es doch, indem er rotzfrech behauptet, ein Angehöriger des Lokführers zu sein, ein Anderer schafft es nach einer längeren Diskussion mit einem Polizeibeamten.
Der Gewichtsheber ist auch wieder aufgetaucht, steckt sich eine Zigarette an und plaudert mit mir über seine Doping-Tricks.
Dann wendet er sich einem blondgelockten Mädel zu, die hat auch eine Zigarette im Mundwinkel, er gibt ihr Feuer und lässt ein paar Bemerkungen über seine sportliche Karriere fallen, natürlich ohne Doping, aber sie springt nicht drauf an und erwähnt ziemlich rasch ihren Freund, zu dem sie gerade unterwegs ist.
Zwei Italiener rauchen ebenfalls, schauen dem Treiben zu und diskutieren ein wenig mit dem Zugführer. Der schnorrt sich vom Gewichtsheber eine Zigarette und bittet uns, die Tür zu bewachen, damit keiner unbefugt aussteigt.
Draußen haben sich die wichtigen Leute mit ihren Funkgeräten aufgebaut: Jede Menge Einsatzleiter von Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei, dann gibt es noch einen Notfall-Manager, dazwischen Polizei, martialisch uniformierte Feuerwehrleute und das Zugteam. Ein Hilfsschaffner verteilt drinnen Mineralwasser, greifen Sie zu, meine Damen und Herren, es wird noch eine Weile dauern!
Wie lange denn?
Weiß ich nicht!
Ein Freund von einem Kollegen, dem seine Schwiegermutter hat gesagt, sie haben mal fünf Stunden gestanden bei so einer Sache…
Nee, so lange wohl nicht, aber…
Drei Stunden?
Vielleicht.
Gibt’s hier Leichenteile zu sehen?
Nee, die Leiche liegt einen Kilometer hinter uns…
Aber tot isse?
Mausetot!
Mann oder Frau?
War das Absicht?
Natürlich war das Absicht!
Nee, kann ja auch geschubst worden sein!
Deswegen muss die Polizei ja noch kommen..
Die Feuerwehr fährt Drehleitern aus, baut Flutlichtmasten auf und alles wartet auf ganz furchtbar wichtige Leute von der Polizei.
Die ganz wichtigen Leute kommen und dann wartet man auf noch viel wichtigere Leute.
Der Gewichtsheber verteilt freigiebig Zigaretten, telefoniert und erzählt einem weiteren blondgelockten Mädel, dass da unten unter der Plane die Leiche liegt.
Nee, das stimmt nicht, die Leiche liegt einen Kilometer… der Gewichtsheber funkelt mich böse an.
Einer von den beiden Italiener fotografiert die Szene mit seinem Handy. Kommt auf meine Facebook-Seite, sagt er, O, Scheiße, jetzt ist mein Akku leer, hat zufällig wer ein I-Phone-Ladegerät?
Der andere Italiener hat erfahren, dass unsere Story hier schon längst getwittert oder gefacebookt worden sind.
Inzwischen hat man einen Ersatzlokführer organisiert, aber der darf natürlich noch lange nicht losfahren.
Auftritt ganz wichtiger Oberpolizist.
Der geht ganz langsam einmal um den Zug herum und muss dann auf einen noch wichtigeren Beamten warten. Zum Glück hat sich noch kein Staatsanwalt eingeschaltet, sagt der Zugführer, die brauchen erfahrungsgemäß Stunden, bis sie kommen.
Endlich taucht der ganz wichtige Oberpolizist auf, geht einmal durch den Zug, muss noch irgendeinen Zeugen vernehmen, dann erteilt er die Freigabe, wie es auf behördendeutsch heißt und die Feuerwehr fängt damit an, den ganzen Zinnober wieder abzubauen.
Zugchef macht seine Durchsage, meine Damen und Herren, in wenigen Minuten…
…als der Zug dann endlich anruckt, gibt’s von den Fahrgästen Applaus.
Mit gut zwei Stunden Verspätung erreichen wir Sankt Anderswo, mein Anschlusszug ist natürlich schon lange weg, aber es geht doch noch einer, und dort begebe ich mich schnurstracks in den Speisewagen und brauche erstmal ein großes Bier.

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