Auf den „Positiven Begegnungen“ 2012 in Wolfsburg wurde viel über die Zukunft der Selbsthilfe diskutiert. Und es wurden Meilensteine gesetzt. Von Heike Gronski
Wo sonst könnte der Stein ins Rollen gebracht werden, wenn nicht auf der größten Positivenkonferenz Europas? Alte Strukturen sollten aufgebrochen werden, um die Selbsthilfe dynamischer, griffiger, transparenter, attraktiver, kurzum: zukunftsfähiger zu machen. In den von der Deutschen AIDS-Hilfe geförderten Selbsthilfenetzwerken würden allzu oft die gleichen Themen parallel diskutiert, so die Meinung vieler Konferenzteilnehmer_innen. Die rein zielgruppenspezifische Arbeit empfinden die meisten daher als nicht mehr zeitgemäß. Durchaus unterschiedliche Meinungen gab es dagegen bei der Frage, welcher Weg in die Zukunft führen könnte.
Der Wunsch nach Neuem
Welches die größten Herausforderungen für die Selbsthilfebewegung in den kommenden Jahren sind und wie man sie am besten angehen kann, wurde kontrovers, aber auch konstruktiv diskutiert. „Ich war überrascht, wie groß der Wunsch nach Neuem war, ohne das bereits Bestehende komplett über Bord zu werfen“, fasste ein Teilnehmer die Aufbruchstimmung am Ende der Konferenz zusammen.
Wie immer, wenn es um Veränderung geht, mussten auch Ängste und Befürchtungen aus dem Weg geräumt werden. So sollen die Netzwerke keineswegs abgeschafft werden. Schließlich sind sie eine wichtige Säule der Selbsthilfe und ermöglichen nicht nur Identifikation, sondern gewährleisten auch die Partizipation der HIV-Community bei der HIV-Prävention. Deutlich wurde aber auch, dass eine aktive, schlagkräftige und sichtbare Selbsthilfe wichtiger denn je ist: Auch heute noch, dreißig Jahre nach den ersten bekannten Aidsfällen, werden Menschen mit HIV in vielen Lebensbereichen diskriminiert und benachteiligt.
Gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen
Um dem solidarisch entgegentreten zu können, sollen künftig die Kräfte und Ideen aller Gruppen gebündelt werden. Auf den „Positiven Begegnungen“ wurde deutlich, dass viele Menschen mit HIV bereit sind, sich über ihre Gruppe hinaus zu vernetzen und verstärkt themenspezifisch zu arbeiten. Die bereits während der Konferenz gesammelten Themen wurden auf der Abschlussveranstaltung noch einmal diskutiert und zusammengefasst.
Diese zentralen Aufgaben der Selbsthilfe sollen nun in sogenannten Themenwerkstätten in Angriff genommen werden. Hier können Menschen mit HIV als „Expert_innen in eigener Sache“ Strategien und Konzepte entwickeln mit dem Ziel, gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen und die eigene Lebenssituation zu verbessern. Auch wer nicht in Wolfsburg dabei war, ist herzlich eingeladen, sich in diese neuen Strukturen einzubringen. Die Themenwerkstätten sind keine geschlossenen Zirkel – Interessierte aus allen Communities können sich jederzeit einklinken. Auch hier und jetzt darf gerne über Inhalt und Zukunft der neu strukturierten Selbsthilfe diskutiert werden.
Folgende 13 Themen wurden in Wolfsburg auf die To-Do-Liste gesetzt:
1. Neudefinition „Safer Sex Plus“ – Verknüpfung von Primär- und Sekundärprävention
2. Werkzeuge für die Selbsthilfe
3. Arbeitsgruppe Geschichte
4. kollektive Strategien zum Umgang mit Schuld und Verantwortung
5. Kriminalisierung
6. Social Media für die Selbsthilfe
7. HIV im Erwerbsleben
8. Abbau von Diskriminierung im Medizinsystem
9. Versorgung von Menschen mit HIV im Alter und/oder bei Pflegebedarf
10. Dialog zwischen den Generationen
11. Dialog mit Nichtinfizierten stärken
12. HIV und Sport – Abbau von Diskriminierung in Sportvereinen
13. Junge Positive und positive Jugendliche stärken
Wir eröffnen sieben Themenwerkstätten
Um Energien zu bündeln, bietet es sich an, diese 13 Themen in sieben Werkstätten zu bearbeiten, die wir hiermit zur Diskussion stellen:
Werkstatt 1: Werkzeuge, Arbeitsformen, Methoden und Kommunikationsformen für die Selbsthilfe
Mit den „positiven stimmen“ kam bereits eine innovative, sehr erfolgreiche Methode mit viel Beteiligung zur Anwendung. Andere neue Methoden warten noch auf ihre Erprobung. Moderne Kommunikationsformen können ausgebaut und die Vernetzung gestärkt werden. Auch der Dialog zwischen den Generationen sowie mit An- und Zugehörigen kann in dieser Themenwerkstatt in den Fokus rücken.
Werkstatt 2: Die HIV/Aids-Geschichte
Die Geschichte von HIV/Aids und der Positiven-Selbsthilfe zu kennen und zu verstehen, hilft dabei, andere zu verstehen und solidarisch zu sein. Angesichts der sich wandelnden Bilder von HIV/Aids und der daraus folgenden Diskussionen und Konflikte zwischen den langjährig Infizierten und den erst seit kurzem mit HIV Lebenden ist es wichtig, sich mit den verschiedenen Phasen der Aids-Geschichte zu beschäftigen. In dieser Themenwerkstatt gilt es, historisches Material zu sammeln und zu archivieren, Projekte zu vernetzen, die sich bereits mit der HIV/Aids-Geschichte befassen, und Forschungsfragen zu formulieren.
Werkstatt 3: HIV und Arbeit
Die HIV-Infektion ist heute eine meist gut behandelbare chronische Krankheit. Viele Menschen mit HIV sind deshalb erwerbstätig oder auf Arbeitssuche. Aber wie soll man mit der Infektion im Erwerbsleben umgehen: soll man sie offenlegen oder lieber nicht? Die Verunsicherung ist zu Recht groß, denn eine bekanntgewordene HIV-Infektion kann zu Ausgrenzung, Mobbing bis hin zu Kündigung führen. Leitfragen dieser Themenwerkstatt lauten: Wie können beim Arbeitgeber und im Kollegenkreis unbegründete Infektionsängste und Vorurteile abgebaut werden? Welche Informationen brauchen HIV-Positive, um am Arbeitsplatz selbstbewusst mit ihrer Infektion umgehen zu können? Was muss die Politik gegen Diskriminierungen im Erwerbsleben tun?
Werkstatt 4: Abbau von Diskriminierung im Medizin- und Gesundheitssystem sowie in Sportvereinen
Menschen mit HIV müssen regelmäßig zum Arzt, haben einen besonderen Vorsorgebedarf, und man empfiehlt ihnen viel Bewegung und Sport. Doch auch im Gesundheitssystem kommt es immer wieder vor, dass Menschen mit HIV diskriminiert werden – selbst von Ärzten und medizinischem Personal, wie das Projekt „positive stimmen“, die deutsche Umsetzung des internationalen „Stigma-Index“, ergeben hat. Zwar gibt es bereits Kooperationen, um gegen Diskrimierungen in diesem Feld anzugehen. Doch offensichtlich reichen die bisherigen Bemühungen noch lange nicht aus, um wirklich etwas zu bewegen.
Werkstatt 5: Versorgung von Menschen im Alter und bei Pflegebedarf
Dank wirksamer Therapien leben Menschen mit HIV heute besser und länger. Das bedeutet, dass man alt und irgendwann vielleicht auch pflegebedürftig werden kann. Aber ist das Pflegesystem auf Menschen mit HIV und ihre Lebensweisen überhaupt vorbereitet? Droht ihnen auch in Alten- und Pflegeheimen Diskriminierung, gegen die sie sich dann womöglich nicht mehr wehren können? Wie Positive im Alter leben wollen, soll in dieser Themenwerkstatt erörtert werden.
Werkstatt 6: Der kollektive Umgang mit (verinnerlichter) Stigmatisierung, Schuld und Verantwortung; Kriminalisierung von Menschen mit HIV
Viele Menschen mit HIV geben sich selbst die Schuld an ihrer Infektion oder beschuldigen ihre Sexpartner_innen. Zugleich wird HIV-Positiven die ganze Verantwortung für den Schutz der Nichtinfizierten zugewiesen. All das gipfelt in der strafrechtlichen Verfolgung HIV-Positiver, wenn es zu ungeschütztem Sex gekommen ist. Die Themenwerkstatt hat zum Ziel, den Teufelskreis von (verinnerlichter) Stigmatisierung, Schuld, Schuldzuweisung und Kriminalisierung zu durchbrechen und kollektive Gegenstrategien zu entwickeln.
Werkstatt 7: Viruslastmethode, EKAF, Nichtinfektiosität unter Therapie: Wie nennen wir’s?
Auch Sex ohne Kondom kann heute Safer Sex sein. Wir sprechen dann von der EKAF- oder Viruslast-Methode oder von Sex bei einer Viruslast unter der Nachweisgrenze – alles viel zu sperrige und auch unklare Begriffe. In dieser Themenwerkstatt soll nach einer griffigen Bezeichung gesucht werden, die für Alt und Jung, Positive wie Negative klar, verständlich und vielleicht auch sexy ist.
Gemeinsam sind wir stark und können etwas bewegen
An diesen sieben Themen wollen wir in den nächsten zwei Jahren gemeinsam arbeiten. Dazu wird es erstmals (neben den Netzwerktreffen) Werkstatt-Treffen geben. Diese sind aber nur ein Bausstein unter mehreren: Auch in Kleingruppen bei den bundesweiten Positiventreffen, auf einer neuen Kommunikationsplattform (sie wird Anfang kommenden Jahres online gehen) und in enger Zusammenarbeit mit dem Verband sollen die Themen netzwerkübergreifend behandelt werden. Auf diese Weise sollen sich möglichst viele Menschen aktiv in die Diskussion einbringen können.
Gemeinsam sind wir stark und können etwas bewegen. Ich hoffe, dass wir bis zu den nächsten Positiven Begegnungen vieles gemeinsam gestalten und auf den Weg bringen können!