Detlev Meyer gehört zu den “bekanntesten Unbekannten” der neuen deutschen Literatur. Ein Dichter und Dandy, dessen Werk wegen seiner oft lebensfrohen schwulen Themen die Anerkennung des breiten Publikums versagt blieb. Sein Verleger Joachim Bartholomae erinnert an den 1999 an Aids verstorbenen Berliner Schriftsteller
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an die an Aids verstorbenen Menschen? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich der Blog-Themenschwerpunkt in diesem Monat.
Detlev Meyer ist am 30. Oktober 1999 an den Folgen von Aids verstorben; für ihn kamen die Kombitherapien zu spät. Detlev war ein Dandy, der sich mit 35 Jahren entschloss, von nun an ganz als Dichter zu leben. Die hässliche Realität sollte keine Macht über ihn bekommen. Damals schrieb er das kleine Gedicht:
Knaben und
Kernkraft
finde ich
rätselhaft
sowie meine
Selbstergriffenheit
vor Spiegeln
Gefährlich
ist das alles.
Über seine eigene Erkrankung hat Detlev öffentlich nie gesprochen. In seinem Roman „Ein letzter Dank der Leichtathleten“ von 1989 setzt er sich mit dem Problem auseinander, das Leiden an einer tödlichen Krankheit zu verarbeiten und gegenüber Freunden zu thematisieren: „Unauffällig lebe der Schwule, medienwirksam sei sein Sterben. Wenn er noch 70 Pfund wiegt, wird er den Heterosexuellen endlich erträglich.“ Damals hatte der Rowohlt-Verlag gerade den sterbenden Hervé Guibert durch die Talk-Shows gejagt, der wirklich nicht mehr als 70 Pfund wog, aber sehr schön und zerbrechlich aussah.
Detlev dagegen entschloss sich, jetzt endlich die Haare zu färben, als es ihm schlechter ging. Als ich ihn besuchte, um über die Veröffentlichung seines letzten Gedichtbands mit ihm zu reden, war ich auf einen Krankenbesuch gefasst.
Detlev hatte jedoch in seinem Lieblingsrestaurant einen Tisch serviert und ließ sich stilvoll ausführen – morgens um vier kamen wir beide nachhause, sein Freund war halbtot vor Angst. Er schrieb mir später, es habe mehr als eine Woche gedauert, sich von dieser Nacht zu erholen, aber sie sei es wert gewesen.
Für Detlev gehörte die Solidarität ganz automatisch zur Schönheit dazu
Im „Letzten Dank den Leichtathleten“ beschreibt Detlev, wie einige Freunde beisammen sitzen. Einer von ihnen buchstabiert AIDS als Aufbruch in die Schönheit. „Merkwürdig, sagt Viktor, ich hätte Solidarität gewählt.“ Ich glaube, für Detlev gehörte die Solidarität ganz automatisch zur Schönheit dazu.
Er selbst war ein treuer Freund (was natürlich nichts mit Sex zu tun hatte), und einige gute Freunde waren für ihn da, als es ihm schlechter ging. Als freiberuflicher Künstler lebte er von der Hand in den Mund, was ihn in guten Zeiten allerdings nicht daran hinderte, vom Honorar einer Lesung anschließend die Freunde zu bewirten, sodass kaum etwas übrigblieb.
Darunter hätte er es nicht getan. „Gefährlich ist das alles“ – aber die Gefahr sollte keine Macht über ihn bekommen, auch wenn er selbst oft kaum das Geld zusammen bekam, um die Miete zu bezahlen. Gute Freunde durften dabei helfen.
In seinen letzten Jahren schrieb er den Roman „Sonnenkind“, die Geschichte seiner Kindheit und seines Großvaters, dessen Lebensart der kleine Detlev schon als Kind bewundert hatte. Das war seine Art darauf zu reagieren, dass er selbst niemals das Alter seines Großvaters erreichen würde: Anstelle der bitteren Klage bevorzugte er die verklärende Erinnerung an gute Zeiten.
Dabei war er im Grunde viel zu sehr „Berliner Jung“, um sich selbst etwas vorzumachen: „Früher war ich Märchenerzähler / Derzeit bin ich Autor. / Demnächst werde ich Singvogel.“ – so schreibt er in seinem letzten Gedichtband „Stern in Sicht“.
Realismus hieß für ihn jedoch niemals, die Zuversicht zu verlieren:
Jetzt in diesem Augenblick
ist der Himmel, wie er nie war
und nie wieder sein wird.
Jetzt in diesem Augenblick
bin ich, wie ich nie war
und nie wieder sein werde.
Es wird ein anderes Licht sein
und eine andere Stunde.
Neues wird sein. Immer.
Detlev fragte: Du meinst den Tod?
Bei meinem letzten Besuch habe ich mit Detlev Tarot gelegt; seine erste Karte war die Acht der Kelche: Im Vordergrund des Bildes sind acht Kelche aufgereiht, dahinter steht eine dunkle Gestalt, die sich zum Gehen wendet. Ich sagte ihm, diese Gestalt habe fast alles erlebt, was diese Welt zu bieten hat, und nun gehe sie fort, um die letzte Erfahrung zu machen, die ihm noch fehlt. Detlev fragte: Du meinst den Tod?
Detlev Meyer wurde fünfzig Jahre alt – über sein Geburtsjahr hat er tatsächlich schon seit dem dreißigsten Geburtstag gelogen. Wenn ich heute an ihn denke, habe ich sofort sein Gesicht vor Augen, diese Meyer‘sche Mischung aus Liebenswürdigkeit und Skepsis, mit der er schnell Freunde fand und zugleich eine Schutzzone um sich herum aufrecht erhielt – einerseits „Sag mir, was du denkst!“, und gleichzeitig „Du meinst doch wohl nicht wirklich …!“
Detlev Meyer war ein Dandy, und Dandys sind nicht zum Anfassen. Als Dandy war Detlev der Vertreter einer aussterbenden Spezies, und zugleich ein unvergessliches „Einzelstück“, dem es immer gelang, seine Umgebung zum Lächeln zu bringen.
Joachim Bartholomae
Weiterführende Beiträge:
Detlev-Meyer-Porträt auf der Internetseite des Männerschwarm Verlags
Thema Trauern und Erinnern auf aidshilfe:
Lebet Vertrauen, dann erwächst das Leben
Orte des Erinnerns und des Gedenkens
Der Tod ist das zweite große Fest im Leben“ – Interview mit Matthias Hinz