Mir ist klar, dass die Patienten, die in der Folge der Visite-Sendung teils von weit her gereist sind, um sich von mir beraten zu lassen, eine Art negative Auswahl sind. Es melden sich ja vor allem diejenigen, die verzweifelt sind und bereits eine gewisse Leidensgeschichte hinter sich haben. Trotzdem muss das, was gelegentlich in der alltäglichen Medizin passiert und was mir mit den „Visite-Patienten“ begegnet ist als erschütternd bezeichnet werden.
Hier das versprochene Extrem-Beispiel:
Ein etwa fünfzigjähriger Mann stellt sich mir vor. Er ist in Bedrängnis. Am übernächsten Tag soll seine Schulter operiert werden. Er selbst hegt Zweifel, ob dieser Weg der richtige ist, aber seine zunehmenden Beschwerden und seine abnehmende Lebensqualität lassen ihn inzwischen nach jedem Strohhalm greifen.
Seine Nachbarin hat die entsprechende Visite-Sendung auf N3 gesehen und auf den Link im Internet zu www.der-andere-hausarzt.de verwiesen.
Nach Terminvereinbarung per Mail-Kontakt und über hundert Kilometer Anreise sitzt der Mann vor mir.
Nennen wir ihn H. Er wirkt gehetzt. H. hat kaum Zeit mich zu begrüßen. Hektisch kramt er seine Röntgen-Bildersammlung aus der Tasche. Zwei CDs mit MRT-Aufnahmen der betroffenen Schulter folgen. Meine Aufforderung, er solle doch erstmal in Ruhe erzählen, was überhaupt los ist, bringt ihn aus dem Tritt. H. stottert.
„Aber Herr H., Sie sind doch nicht über hundert Kilometer gefahren, haben jede Menge Bilder mitgebracht, aber ihre Zeit vergessen. Er grinst. Er bemerkt das Paradoxe an der Situation. Der Arzt bittet den Patienten um Zeit.
Das stimmt so natürlich nicht, denn als Arzt spare ich viel Zeit, wenn die Patienten sich beruhigen und geordnet von ihren Beschwerden berichten. Ich kann dann immer noch eingreifen, wenn die Geschichte zu lang wird oder abschweift. Aber Herr H. hat verstanden und erzählt in kurzen, präzisen Sätzen von Anfang an.
Zunächst nicke ich nur, aber es ist klar, dass da etwas nicht stimmt.
Als nächstes bitte ich den Patienten, den Oberkörper freizumachen. Ich bin der vierte Arzt, den er mit seinem Schulterproblem aufsucht, aber der erste, der ihn bittet sich auszuziehen. Einer der drei Vorbehandler hat ihn mal in voller Kleidung (mit Jacke) untersucht, die anderen beiden gar nicht.
Es geht um die rechte Schulter. Das heißt, dass es nicht darum geht, ist schon im Gespräch deutlich geworden, aber davon sage ich noch nichts. Ich untersuche beide Schultern, danach orientierend die Wirbelsäule und die Nackenpartie. Ich bitte Herrn H. auch die Hose und die Socken auszuziehen. Danach untersuche ich den Beckenstand, bewege im Liegen die Hüftgelenke durch und sehe mir die Fußsohlen an.
Als ich Herrn H. bitte, sich wieder anzukleiden, sind acht Minuten vergangen. Meines Erachtens nicht viel Zeit für die Ermittlung einer Krankengeschichte und eine orientierende Untersuchung.
Während Herr H. sich anzieht, er schlupft übrigens mühelos in seine Hemdsärmel, notiere ich seine Angaben zur Krankheitsgeschichte und die von mir erhobenen Befunde.
Da ich einen Moment schweige, fragt Herr H.:
„Soll ich mich nun übermorgen operieren lassen?“
Wie schön. Er selbst hat inzwischen seine gesammelten Bilder vergessen, die hatte ich mir bislang ja noch nicht angesehen. Das hole ich nach und beantworte dann seine Frage.
„Nein. Es gibt keinen Grund Sie zu operieren. Ihre Schulter ist in Ordnung.“
Sie können sich die Überraschung vorstellen, aber um die Sache abzukürzen:
Die rechte Schulter des Mannes ist frei beweglich. Es gibt keinerlei schmerzhafte Druckpunkte im Bereich der Schulter, nicht einmal einen Bewegungsschmerz. Jedenfalls keinen Bewegungsschmerz, der die Schulter betrifft oder von ihr ausgeht.
Allerdings ist seine Halswirbelsäule rechts bis in die Schulter-Nackenpartie äußerst druckschmerzhaft, dazu kommen Bewegungsschmerz und Bewegungseinschränkungen für alle Bewegungsrichtungen der HWS.
Das wundert nicht, weil der Mann eine Haltungsschwäche der gesamten Wirbelsäule hat.
Das wundert nicht, weil der Mann einen Beckenschiefstand hat.
Das wundert nicht, weil der Mann rechts ein kürzeres Bein hat.
Das wundert nicht, weil der Mann eine Bewegungseinschränkung der rechten Hüfte hat, mit Zeichen des Hüftgelenksarthrose.
Dazu kommt eine erhebliche Fehlbeschwielung der Fußsohlen, was auf eine falsche Belastung der Füße schließen lässt.
Braucht man da sechs verschiedene Röntgenaufnahmen der Schultern und zwei MRTs?
Nein!
Braucht man nicht.
Im Gegenteil.
Die MRTs sind irreführend!
Selbstverständlich hat ein Fünfzigjähriger, der wie Herr H. ein Leben lang Handball gespielt hat, hat kein Schultergelenk mehr, dass den anatomischen Idealvorstellungen entspricht. Trotzdem muss in seinem Falle kein Knochensporn am Schulterdach entfernt und kein Teileinriss einer Sehne genäht werden. Diese Untersuchungsergebnisse sind nicht beschwerdeführend. Das rechte Schultergelenk von H. ist frei beweglich und im Grunde beschwerdefrei, nur hat es noch keiner mit seinen Ohren, Augen und Händen untersucht.
Mit den Ohren beginnt das Dilemma. Denn hätten die vorbehandelnden Ärzte dem Patienten zugehört, hätten sie erfahren, dass der Schmerz gelegentlich bis in die Finger der rechten Hand ausstrahlt, diese auf langen Autofahrten sogar taub werden. Klar, Zwangshaltungen der HWS führen bei einem Menschen mit einer komplexen Fehlstellung seines Bewegungsapparates gelegentlich zu tauben Fingern und anderen ausstrahlenden Beschwerden der HWS.
Fazit: Beschwerdeführend bzw. -verursachend bei Herrn H. ist ein Verschleiß der rechten Hüfte – leicht- bis mittelgradig. Dies führt unter anderem zum Beckentiefstand rechts. Wenn man also etwas operieren wollte, wäre es die rechte Hüfte. Aber auch das ist bisher nicht nötig.
Zusammen mit der Korrektur seines ausgeprägten Spreiz-Knickfußes per Einlagen, dazu krankengymnastische Therapie und intensives Eigentraining der Hüft- und Wirbelsäulen-, sowie der gesamten Körperstammmuskulatur wurde in den letzten Wochen eine deutliche Beschwerdelinderung erreicht.
Wenn Herr H. jetzt noch zum Zahnarzt geht, wird auch der Rest seiner Schulter-Nacken-Schmerzen beseitigt sein. Ich habe Herrn H. nämlich auch in den Mund geschaut. Den Ersatz von zwei Backenzähnen schiebt er seit zwei Jahren vor sich her. Herr H. wirft sich zwar noch immer jedem anstürmenden Gegner auf den Handballfeld entgegen, aber vor einem Zahnarzt hat er Angst. Nicht sein einziger Zug, der ihn mir sympathisch macht.
Aber sein Aufbiss kann nicht stimmen und ein schiefer Biss führt zu – na, können Sie sich es denken?
Richtig!
…führt zu Halswirbelsäulenbeschwerden, die auch in die Schulter ausstrahlen können.