Michael Müller erforscht an der Universität Bielefeld feindliche Einstellungen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen. Als Fachperson für „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ sprach der Diplom-Pädagoge auf der DAH-Fachtagung „Ausgrenzung. Macht. Krankheit: HIV-bezogener Stigmatisierung entgegentreten“. Im Interview mit Philip Eicker erklärt er die Hintergründe von Menschenfeindlichkeit und das beste Mittel dagegen: Prävention von Anfang an.
Herr Müller, Sie waren Referent auf der Fachtagung „Positive Stimmen“. Dort ging es um die Stigmatisierung von HIV-Positiven. Was konnten Sie als Fachperson für Diskriminierung dort Neues lernen?
Dass es in Alltagssituationen, wie beim Arztbesuch von Menschen mit HIV, zu Diskriminierung kommen kann, dass in manchen Fällen sogar die medizinische Behandlung komplett verweigert wird. Mir war zwar bewusst, dass Personen mit HIV stigmatisiert sind, aber dass es für sie so konkrete Folgen im Alltag hat, das war mir neu.
Sie erforschen an der Uni Bielefeld die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – was meinen Sie damit?
Der Ansatz stammt vom Institut für Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und begreift Vorurteile gegen verschiedene Gruppen als ein Phänomen. Wenn ich Vorurteile gegenüber einer spezifischen Gruppe habe, zum Beispiel gegen „Fremde“, kann man mit diesem Ansatz zeigen, dass die gleiche Person mit einer gewissen Sicherheit auch abwertende Einstellungen gegenüber anderen Gruppen hat, zum Beispiel gegenüber Obdachlosen. Und gruppenbezogen deshalb, weil Vorurteile gegen Personen zumeist auf deren Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Das heißt, ich werte eine Person, die von mir als fremd wahrgenommen wird, nicht individuell ab, sondern weil sie zur Gruppe der Fremden gehört.
Menschen diskriminieren, um ihren Selbstwert zu erhöhen
Warum haben manche Menschen das Bedürfnis, andere abzuwerten?
Das hat vielfältige Gründe. Ein wichtiger Beweggrund für Ausgrenzung und Diskriminierung ist, dass ich durch sie meinen eigenen Selbstwert erhöhen kann. Dadurch dass ich einen sozialen Abstand aufbaue, wird meine eigene Gruppe aufgewertet.
Welche Mechanismen führen noch zu Menschenfeindlichkeit?
Sie bietet auch die Möglichkeit, eine Gruppenidentität zu bilden oder zu stärken. Wenn es Teil meiner Gruppenidentität ist, einer anderen Gruppe gegenüber feindlich eingestellt zu sein, dann schweißt das eine Gruppe zusammen: Wenn ich weiß, gegen wen ich bin, weiß ich auch, wer ich selbst bin. Ein klassisches, extremes Beispiel ist der Antisemitismus bei Rechtsradikalen. Der Mechanismus „wir gegen die“ gilt aber für viele andere Gruppenbeziehungen auch.
Lassen sich Ihre Forschungsergebnisse leicht auf die Stigmatisierung von HIV-Positiven übertragen?
Ja und nein. Ja, weil bei der Abwertung von Menschen mit HIV grundsätzlich gleiche Mechanismen ablaufen könnten wie bei der Abwertung anderer sozialer Gruppen. Nein, weil HIV ein spezifisches Problem ist. Mit HIV kann sich jeder Mensch infizieren, aber nicht jeder kann die Ethnie wechseln. Es gibt statische Merkmale wie die Hautfarbe, flexible Merkmale wie das, als fremd bezeichnet zu werden. Oder eben HIV, mit dem sich prinzipiell jeder infizieren kann, was dann aber zu einem statischen Merkmal wird. Da liegt der Unterschied. Dazu kommt noch, dass HIV tatsächlich eine gesundheitliche Bedrohung ist, die – vor allem wenn sie spät erkannt wird – schwere Folgen haben kann. Das muss man berücksichtigen.
Je sichtbarer das Merkmal, desto wahrscheinlicher wird man Opfer von Diskriminierung
Welche Merkmale machen die Stigmatisierung einer ganzen Gruppe wahrscheinlicher?
Ist ein Merkmal sichtbar, wie zum Beispiel Hautfarbe, Geschlecht oder auch das Alter eines Menschen, ist es viel wahrscheinlicher, dass eine Person als Mitglied einer Gruppe wahrgenommen und dann auch Opfer von Diskriminierung wird.
HIV ist unsichtbar. Fällt die Abwertung dadurch schwächer aus?
Das ist letztendlich nicht der entscheidende Faktor für die persönliche Einstellung zu einer bestimmten Gruppe. Nehmen wir als Beispiel den Antisemitismus: Der funktioniert auch ohne Juden – das heißt ich kann eine negative Einstellung gegenüber Juden haben, ohne jemals einen Juden getroffen zu haben. Ich habe Bilder im Kopf, die schon genügen, um Mitglieder einer Gruppe abzuwerten. Auch bei HIV dürften die Bilder im Kopf entscheidender sein als die konkrete Person mit HIV, die ich treffe. Die Stereotype, die ich mit HIV assoziiere, reichen aus, dass ich Personen mit HIV abwerte. Relevant wird diese Abwertung aber erst dann, wenn mir bewusst wird, dass mein Gegenüber HIV hat. Dann setze ich die Stereotype gegebenenfalls in tatsächliches Handeln um.
Woher kommen diese Bilder im Kopf?
Was wir über die Gesellschaft wissen, wissen wir hauptsächlich aus den Massenmedien. Wenn ich mir eine Meinung bilden möchte, zum Beispiel über eine Gruppe, schau ich mir an, welche Berichte über sie im Internet zu finden sind. Was ich über Menschen mit HIV weiß, weiß ich über die Medien. Es sei denn, ich habe persönlich Kontakt zu Mitgliedern der Gruppe, dann habe ich natürlich ein differenzierteres Bild. Aber sonst bin ich auf die Medien geradezu angewiesen. Meist ist dieser Meinungsbildungsprozess ohnehin unbewusst.
Je offener eine Gesellschaft ist, desto weniger Vorurteile gibt es.
Welche Umstände begünstigen Menschenfeindlichkeit?
Zum einen alle gesellschaftlichen Krisen: Das kann eine Wirtschafts- oder Finanzkrise sein, das kann aber auch die Sorge sein, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. Wenn wahrgenommen wird, dass soziale Beziehungen instabiler werden, dass es schwieriger wird, Freunde zu finden. Aber auch wenn die Normlosigkeit zunimmt, wenn die Leute nicht mehr wissen, wie sie leben sollen, weil die Lebensentwürfe so unterschiedlich sind. All diese Wahrnehmungen stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Menschenfeindlichkeit. Zum anderen sollte man auch wirtschaftliche Entwicklungen im Blick haben: Wenn ich das Gefühl habe, ich könnte arbeitslos werden und meine soziale Stellung verlieren, dann ist es wahrscheinlicher dass ich feindliche Einstellungen entwickele. Und drittens sind soziale Normen wichtig: Wie will sich die Gesellschaft selbst sehen? Möchten wir eine plurale oder eher eine homogene Gesellschaft sein? Je offener wir sind für unterschiedliche Kulturen und Lebenskonzepte, desto weniger Vorurteile müssten in der Gesellschaft zu finden sein.
Seit 2002 untersuchen Sie die Menschenfeindlichkeit in Deutschland. Hat sie sich in den letzten zehn Jahren verändert?
Es gibt eine leicht rückläufige Tendenz bei klassisch sexistischen Aussagen, gleiches gilt für Homosexuellenfeindlichkeit und Antisemitismus. Das heißt nicht, dass es diese Einstellungen nicht mehr gibt, sondern nur, dass ihr Ausmaß rückläufig zu sein scheint. Dann gibt es Facetten, die relativ konstant sind: Bei der Islamfeindlichkeit gibt es nur leichte Schwankungen. Und es gibt feindliche Einstellungen, die inzwischen wieder zunehmen. Bei der Fremdenfeindlichkeit gab es einen Hochpunkt 2005, dann war diese rückläufig bis 2009. Seitdem, also bis 2011, sind die Werte wieder gestiegen.
Menschenfeindlichkeit ist also nicht aus der Welt zu schaffen?
Ja, auch wenn es pessimistisch klingt: Vorurteile wird es immer geben. Demokratische Gesellschaften müssen sich damit auseinandersetzen. Aber wir sind dagegen ja nicht machtlos. Man kann etwas dagegen tun.
Begegnung hilft, Vorurteile zu überwinden.
Was zum Beispiel?
Aus der Vorurteilsforschung wissen wir, dass vor allem Kontakt mit den betroffenen Gruppen hilft. Er kann Vorbehalte abbauen. Es hilft dabei, wenn sich die Gruppen auf Augenhöhe begegnen, wenn sie dabei von Autoritäten begleitet werden – zum Beispiel von den Lehrern in der Schule, von Vorgesetzten im Betrieb. Das sind sozusagen die idealen Rahmenbedingungen. Aber selbst wenn diese nicht gegeben sind, gilt: Wenn Gruppen in Kontakt treten, gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Vorurteile abgebaut werden können.
Wo müsste man bei einer Person mit menschenfeindlichen Einstellungen ansetzen, um sie von ihren Vorurteilen abzubringen?
Kommt darauf an, wie gefestigt das Weltbild der Person ist. Wenn man mit einem überzeugten Nazi spricht, wird es schwierig, ihn vom Antisemitismus abzubringen. Entscheidend ist, in welcher Entwicklungsphase der Einstellungen dieser Austausch stattfindet. Am geschicktesten ist es, wenn man menschenfeindliche Einstellungen gar nicht erst entstehen lässt. Es ist also vor allem eine Frage der Prävention.
Interview: Philip Eicker
Auf der DAH-Fachtagung wurde zu den Themen Stigmatisierung und Diskriminierung diskutiert. Die Video-Dokumentation fasst die Highlights zusammen:
Mehr Informationen zu den Forschungsergebnissen des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung gibt es auf dessen Webseite.
Was hilft konkret gegen Stigmatisierung und Menschenfeindlichkeit? Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit dem IKG auf ihrer Webseite einige Informationen zusammengetragen.