Die Aids-Bewegung hat Geschichte geschrieben. Sie zu sichern, zu bewahren und zu erforschen ist Ziel der neu gegründeten „Themenwerkstatt Aids-Geschichte“. Von Axel Schock
Rund 30 Jahre ist es her, dass HIV und Aids ihre Namen bekamen. Noch sind reichlich Menschen unter uns, die sich daran erinnern können, wie es war, als die ersten Tode zu betrauern waren. Als die Gesellschaft mit Panik, Angst und Ausgrenzung auf die Seuche reagierte, sich zugleich aber auch bis dahin undenkbare solidarische Koalitionen entwickelten und Selbsthilfeorganisationen aufgebaut wurden.
Das große Sterben konnte, zumindest in Ländern mit einer ausreichenden Gesundheitsversorgung, gestoppt werden. HIV ist therapierbar, eine Welt ohne Aids ist zu einer realistischen Vision geworden.Was also wird von dieser Seuche eines Tages bleiben?
Die eigene Geschichte bewahren
Werden Historiker, Soziologen und Kulturwissenschaftler heute und in naher Zukunft ausreichend Material vorfinden, um sich ein ausgewogenes Bild von diesen Kämpfen und Herausforderungen machen zu können? Können wir mit dem zufrieden sein, was künftige Generationen in den Archiven über unsere Geschichte als Selbsthilfebewegung und unsere Erfahrungen als Positive, Ehrenamtler, An- und Zugehörige oder Menschen in der Pflege und im Gesundheitswesen finden werden?
Sollten wir uns nicht allmählich darum kümmern, unsere Geschichte zu bewahren und uns damit auch die „Deutungshoheit“ zu sichern? Wer bewahrt eigentlich die ganz individuellen Zeugnisse aus drei Jahrzehnten Leben mit HIV und Aids – Krankenakten, Tagebücher und Fotos, Pillendosen und Tablettenschachteln, Trauerreden und Kondolenzbriefe –, also all die persönlichen Erinnerungsstücke und Zeugnisse der Lebensfreude wie der Solidarität, durch die Geschichte erst lebendig wird und die extremen Emotionen und politischen Auseinandersetzungen, die mit Aids verbunden sind, greifbar werden?
Zeugnisse aus drei Jahrzehnten Leben mit HIV und Aids
Diskutiert wurde über diese Fragen erstmals 2010 auf den „Positiven Begegnungen“ in Bielefeld. Auf der Nachfolgeveranstaltung im August in Wolfsburg bildete sich aus dem Workshop spontan die nunmehr bundesweit agierende „Themenwerkstatt Aids-Geschichte“.
Dass dringender Handlungsbedarf besteht, hat bei der ersten Arbeitssitzung vergangenes Wochenende in Berlin die Auswertung erster stichprobenartiger Recherchen bei großen Sammlungen, Archiven und Museen gezeigt: Abgesehen von Präventionsplakaten und -broschüren und ein paar roten Schleifen ist in öffentlichen Sammlungen bislang kaum etwas aus dem Bereich HIV/Aids zu finden.
Im Schwulen Museum Berlin wiederum, wo man sich bereits in den 80er Jahren um das Thema kümmerte, können viele der Nachlässe und gestifteten Materialen mangels Geld und Personal nicht aufbereitet werden. Gleichzeitig besteht schon jetzt ein wachsendes wissenschaftliches Interesse an den Archivbeständen.
Was also tun? Die zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer des ersten Arbeitstreffens – ein bunt gemischter Haufen aus Aids-Aktivisten, Wissenschaftlern, Journalisten und Politologen, Positiven und Nicht-Positiven – packten die Sache ganz pragmatisch an: Ein umfassendes deutsches Aids-Archiv aus der Taufe heben zu wollen, so die gemeinsame Erkenntnis, ist illusorisch. Daher will die Themenwerkstatt im ersten Schritt zunächst vor allem ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Geschichte der Aids-Bewegung es wert ist, gesichert zu werden – bei den Menschen mit HIV wie auch bei den Sammlungen, Instituten und Museen, die über die finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten zur Archivierung und Aufbereitung von Materialien verfügen.
Erste Kontakte zu Archiven und Forschungsinstituten
Dazu werden Kontakte zu den wichtigsten Archiven und Forschungsinstituten aufgenommen und mögliche Kooperationen angesprochen. Auf einer für das kommende Jahr geplanten Internetseite sollen die wichtigsten Informationen zusammengetragen und nach und nach ausgebaut werden. Auf dieser Plattform wird dann nachzulesen sein, welche Bestände zum Thema HIV einerseits in den unterschiedlichsten Institutionen bereits vorhanden sind, aber auch, an welchen Materialen diese zur Ergänzung ihrer Sammlung Interesse haben.
Mittelfristig hofft die Arbeitsgruppe eine Forschungseinrichtung zu gewinnen, die das Forschungspotenzial der Aids-Geschichte erkennt und sich überzeugen lässt, eine umfassendere Sammlung zum Thema aufzubauen und idealerweise auch ein Interviewprojekt mit Zeitzeugen ins Leben zu rufen. Die wichtigsten potenziellen Partner aus diesem Bereich sollen im Oktober zu einem Fachgespräch zusammengebracht werden.
Das nächste Arbeitstreffen der „Themenwerkstatt Aids-Geschichte“ ist für Mitte Februar geplant.
Weiterführender Link:
Blogbeitrag zu den in Wolfsburg bei den „Positiven Begegnungen“ initiierten Themenwerkstätten