Ich habe eine Bekannte – vielleicht ist sie auch ein bisschen mehr – immerhin musste ich sie als Kind als “Tante” bezeichnen, also ist sie über wer weiss wie viele Ecken wohl mit mir verwandt. Eine Zeitlang hatte ich bei ihr Klavierunterricht, wofür ich jeweils etwa eine Stunde Weg hin durch die Gegend fahren durfte … und sie häufig dann nicht einmal zur verabredeten Zeit da war. Irgendwann sah dann selbst meine Mama ein, dass ich kaum eine Karriere in der Musik machen würde – nicht wegen meiner “Tante” Mia, sondern weil es mich nicht wirklich interessierte und ich nicht gerade viel geübt habe. Daraufhin wurden die Klavierstunden (nach Jahren) endlich eingestellt. Ich war nicht gerade unglücklich darüber. Mein Verhältnis zu “Tante” Mia war trotz den Jahren Klavierstunden nicht wirklich eng.
Ich würde heute auch kaum mehr Kontakt mit ihr haben, wenn sie nicht zufällig in der Nähe wohnen würde, wo ich arbeite … und mich dort gelegentlich besucht. “Tante” Mia ist keine Kundin von uns – tatsächlich ist sie auch heute mit über 85 Jahren so etwas von körperlich fit, dass man fast neidisch werden könnte. Ich glaube ich habe sie noch nicht einmal mit so etwas banalem wie einer Erkältung gesehen.
Aber “Tante” Mia hat ein anderes Problem. Schon vor Jahren, als sie das erste Mal bei mir in der Apotheke aufgetaucht ist, ist mir aufgefallen, dass ihre ursprüngliche Schusseligkeit … wohl eher zugenommen hat. Anfangs waren es einzelne Dinge, die sie vergass. Den Namen von meinem Kuschelbär. Dass wir nicht mehr in X wohnen, sondern gezügelt sind. Das nahm graduell zu – und ich habe versucht, sie darauf hinzuweisen, dass sie wohl ein ernsthafteres Gedächtnisproblem hat und das vielleicht besser abklären lässt. Je früher je besser – denn es gibt ein paar Sachen, die man heute machen kann. Das hat sie immer abgelehnt mit: “Zu Ärzten gehe ich nicht.” “Machen kann man sowieso nichts” und: “Ich will keine Medikamente nehmen.”
Es wurde schlimmer. Irgendwann wusste sie meinen Nachnamen nicht mehr. Oder wie mein Junior heisst – wobei, dass ich ein Kind habe, das ist ihr geblieben. Inzwischen ist es so weit, dass sie auch meinen Vornamen die meiste Zeit nicht mehr weiss. Sie fragt dafür gelegentlich meine Mitarbeiter danach, wenn sie herein kommt – damit es mir nicht so auffällt.
Aber “Tante” Mia kommt immer noch vorbei mich besuchen. Mit den immer gleichen freundlichen Fragen und den immer gleichen (alten) Geschichten. Und sie vergisst immer mehr und verwechselt die Dinge. Sie kam schon vorbei, weil sie irgendwo ihre Einkaufstaschen stehen gelassen hat, oder ihr Portmonee verloren.
Inzwischen gibt sie keinen Klavierunterricht mehr, was sie bis vor etwa einem Jahr noch gemacht hat – ich vermute zum aufbessern der Rente. Viel bekommen wird sie nicht von der AHV, sie hat zwar immer etwas gearbeitet, aber sie hatte keine spezielle Ausbildung und … Gelegenheitsjobs und Klavierstunden bringen nicht gerade viel. Sie wohnt immer noch allein in ihrer Wohnung und versorgt sich selber. Aber … wie lange wohl noch? Sie hat weder Familie noch (soweit ich weiss) enge Freunde oder Nachbarn, mit denen sie Kontakt hat. Keine Kinder, keine Geschwister, nichts.
Es wird ihr jetzt wohl auch bewusster, dass sie Probleme bekommt. Die letzten Paar Besuche hat sie gemeint “Man sollte nicht so alt werden!”
Und als sie vor Weihnachten wieder bei mir in der Apotheke vorbei kam, fehlte ihr das Gebiss im Oberkiefer. Sie hat es, wie sie mir traurig erzählte, “irgendwo verloren”. Und sie hat natürlich kein Geld für ein neues Teil. “Am besten” meinte sie, “wäre es für mich, wenn ich einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen würde.”
Uh … was soll ich sagen?
Ich sehe genug andere, bei denen es mit dem Altwerden nicht ganz so problematisch abläuft. Aber … das sind die, die vorgesorgt haben. Finanzielle Reserven angelegt, Versicherungen, soziales Netz intakt. Dann ist es auch nicht so tragisch, wenn es gesundheitlich, nicht mehr ganz so geht, wie bisher. Aber “Tante” Mia hat nie vorgesorgt. Sie hat sich darauf verlassen, dass sie keine Probleme bekommen wird (oder nie an so etwas gedacht) … und vielleicht irgendwann einfach tot umfällt.
Nun läuft das aber nicht wie gedacht. Wie gesagt, gesundheitlich ist sie noch fit, aber mit der nachlassenden Geisteskraft … wird sie nicht mehr lange alleine für sich sorgen können. Dass sie ihr Gebiss verlegt / verliert , zeigt mir das schon deutlich. Ihr wohl auch.
Jedenfalls meinte sie vor Weihnachten noch: “Hast Du mir nicht etwas, was mich einschlafen lässt und nicht mehr aufwachen?”
“Nein!”
…
Und selbst wenn ich etwas hätte, bekäme sie es nicht von mir. Das ist wirklich keine Lösung – und auch keine, die ich mit meinem Gewissen vereinbaren könnte. … aber ich überlege mir, ob es wohl irgendwo Hilfe gibt für sie. Kann man sich in so einem Fall nicht an eine Stelle wenden? Das Sozialamt? Pro Senectute? Wer würde für eine demente, finanziell schwache Person, die wahrscheinlich gar keine Hilfe in die Richtung will schauen? Dürfen / können die das überhaupt? Und: wie geht das weiter?
Was ich auf jeden Fall nicht will ist, irgendwann in der Zeitung zu lesen, dass man eine vollkommen verwahrloste Frau, die seit Wochen allein tot in der Wohnung liegt gefunden habe.