Mit der HIV-Therapie gibt es inzwischen ein weiteres wirksames Mittel gegen HIV-Übertragungen. Aber wenn Aidshilfen das Thema aufgreifen, ernten sie Widerspruch. Das Kondom gilt vielen als unersetzlich. Von Philip Eicker
Einmal Sex ohne Kondom – und schon herrscht Panik. Aber nicht nach einer heißen Nacht, sondern nach einem kurzen Interview: „Zu keinem Zeitpunkt“ habe die Präsidentin der Aids-Hilfe Schweiz für Sex ohne Kondom geworben, schreibt die Gesundheitsorganisation am 22. Januar in einer eiligen Pressemitteilung. Eine anderslautende Schlagzeile des Magazins 20 Minuten sei „umgehend geändert“ worden. Redaktion und Journalist hätten sich bereits für den „irreführenden und vollends aus der Gesamtkommunikation der Kampagne herausgerissenen Titel“ entschuldigt. Ende der Ansage.
Offenbar Angst vor der eigenen Courage
Was war passiert? Das Boulevard-Portal 20 Minuten hatte die neue Informationskampagne der Aids-Hilfe Schweiz („Fuck Positive“) vorgestellt. Als Überschrift diente ein angebliches Zitat von Aids-Hilfe-Chefin Doris Fiala: „Wir bewerben bewusst Sex ohne Kondom.“ Das war der Verantwortlichen dann doch zu heiß. Kommando zurück! Safer Sex nur mit Kondom!
Offenbar hat Doris Fiala Angst vor der eigenen Courage bekommen. Denn die Botschaft der Kampagne passt zur ursprünglichen Überschrift. Auf einem Motiv sieht man zwei nackte junge Männer beim Analverkehr, Blickwinkel und Bildsprache sind pornotauglich. Der zugehörige Text erklärt, dass Analsex ohne Kondom auch mit einem HIV-Positiven durchaus Safer Sex sein kann – sofern dieser „therapiert wird und er gut auf die Therapie anspricht“. Damit fasst die Schweizer Kampagne den aktuellen Stand der Wissenschaft knapp aber korrekt zusammen.
In der Öffentlichkeit löst die neue Botschaft Verwirrung aus
Tatsache ist: Eine gut eingestellte HIV-Therapie reduziert das Ansteckungsrisiko um mindestens 96 Prozent. Der Schutzeffekt ist damit genauso hoch wie beim Kondom, dem allseits anerkannten Präventionsmittel der letzten 25 Jahre. „Viruslastmethode“ nennen Mediziner diese Variante des Safer Sex: Der HIV-Patient lässt regelmäßig seine Blutwerte checken und weiß so, wie hoch die Zahl der Viren in seinem Körper ist. Dank moderner Medikamente ist die meist so gering, dass eine Infektion höchst unwahrscheinlich ist. Doch in der Öffentlichkeit löst diese Botschaft Verwirrung aus. Offensichtlich hat sich der Slogan „Kondome schützen“ so tief in die Hirne eingebrannt, dass jede Abweichung mit Entrüstung quittiert wird.
Einen Grund für die Aufregung um die neuen Safer-Sex-Informationen nennt Stephan Gellrich von der AIDS-Hilfe NRW: „HIV ist ja nicht weg. Nur kann man die Infektionsrisiken nun nicht mehr – vermeintlich eindeutig – einer bestimmten Gruppe zuordnen.“ Bisher sei die ganze Verantwortung für Safer Sex den Positiven zugeschoben worden. „Der Gedanke war: Von denen halte ich mich fern. Dann passiert schon nichts, auch wenn ich ungeschützt Sex habe.“ Diese trügerische Gewissheit ist nun Geschichte. Ausgerechnet ärztlich diagnostizierte HIV-Patienten sind nun diejenigen mit dem berechenbarsten Infektionsrisiko. Sind sie in Therapie, geht es gegen Null.
Selbst ein Drittel der Positiven zweifelt daran, nicht mehr ansteckend zu sein
Nachdem die Wissenschaft den Erfolg der HIV-Therapie bestätigt hat, schieben sich politische Fragen in den Vordergrund: Wie alltagstauglich ist die Viruslastmethode? Wie baut man sie sinnvoll in eine HIV-Präventionskampagne ein? Darf man sie an die große Glocke hängen? Oder sollte man sie besser nur in bestimmten Zielgruppen streuen? Antworten zu finden ist nicht einfach. Die neuen Voraussetzungen für Safer Sex ohne Kondom lassen sich nicht so richtig knackig in einen einzigen Satz pressen. Folgendes muss man dazu wissen:
- Die Viruslast des oder der HIV-Positiven ist seit mindestens sechs Monaten unter der medizinischen Nachweisgrenze.
- Die antiretroviralen Medikamente werden konsequent eingenommen.
Stephan Gellrich sieht trotzdem kein großes Kommunikationsproblem auf Aidshilfen und andere Präventionsprojekte zukommen. „In der gegenwärtigen Debatte wird manchmal künstlich ein Gegensatz konstruiert: Therapie oder Kondom. Für mich ist das kein Gegensatz. Jeder kann für sich auswählen, auf welcher Basis er Sex haben möchte.“ Laut Gellrichs Schätzung zweifelt selbst ein Drittel der Positiven daran, nicht mehr ansteckend zu sein. Obwohl sie alle drei Monate die guten Laborwerte von ihrem Arzt erfahren. „Wer sich auf die Nichtinfektiosität nicht verlassen möchte, soll Kondome verwenden“, empfiehlt Gellrich. „Die sind weiterhin sinnvoll. Gerade in Situationen, wo man nicht miteinander reden kann.“
Das eine Allheilmittel gegen alle sexuell übertragbaren Infektionen gibt es sowieso nicht
Es geht also nicht darum, das bewährte Präventionsmittel Kondom durch die neue Viruslastmethode zu ersetzen. Vielmehr sollen alle Safer-Sex-Möglichkeiten auf den Tisch. Im Idealfall kann sich dann jeder das für ihn gerade Passende herausgreifen. Das eine Allheilmittel gegen alle sexuell übertragbaren Infektionen (STIs) gibt es sowieso nicht. Axel J. Schmidt vom Robert Koch-Institut betont mit Blick auf Hepatitis C: „Die altbekannten Safer-Sex-Regeln sind ein Konstrukt, um das Risiko von HIV-Infektionen zu senken. Sie gelten nicht automatisch für andere Krankheiten mit anderen Übertragungswegen.“
Und diese anderen STIs sind derzeit im Kommen. Die Syphilis zum Beispiel. Die Zahl der neu gemeldeten Fälle steigt seit der Jahrtausendwende an. 2012 wurde mit 3.000 Neudiagnosen in Deutschland ein Rekordwert erreicht. Deshalb bezweifeln manche Wissenschaftler und Präventionisten, ob man ausgerechnet jetzt über Alternativen zum Kondom informieren solle. Ist die Viruslastmethode am Ende das falsche Signal? Gerade an Menschen mit häufig wechselnden Sexpartnern?
Manche wollen am Kondom nicht rütteln lassen – Viruslast hin oder her
„Die neue Entscheidungsfreiheit, das Kondom auch mal weglassen zu können, führt natürlich dazu, dass sich andere STIs leichter ausbreiten können“, bestätigt Michael Schuhmacher, Geschäftsführer der Aidshilfe Köln. „Wir müssen nun verstärkt daran erinnern, dass es neben HIV noch andere Risiken gibt. Das macht das Präventionsgeschäft aufwändiger.“ Als geeignetes Mittel empfiehlt Schuhmacher vor allem persönliche Gespräche. Die ergeben sich zum Beispiel bei den beliebten Schnelltest-Angeboten. „Die Ratsuchenden lassen sich da ja nicht nur Blut abnehmen, sondern sprechen mit uns auch über ihre Risiken“, berichtet Schuhmacher. Der Berater könne dann einhaken, auf Homepages verweisen und weitere Beratungsangebote machen. 3.000 Personen hat die Aidshilfe Köln auf diese Weise im Jahr 2012 informiert.
Andere wollen am Kondom nicht rütteln lassen – Viruslast hin oder her. Das bot Diskussionsstoff bei „HIV Kontrovers 2012“, einer Fachtagung für HIV-Spezialisten, die Ende September in Köln stattfand. „Eine Präventionsbotschaft, die alle erreichen soll, muss das Kondom im Zentrum haben“, forderte dort etwa Heinrich Rasokat, Oberarzt an der Uniklinik Köln. Dabei hält auch Rasokat die Therapie für eine wichtige Ergänzung der HIV-Prävention. „Aber für die breite Öffentlichkeit ist der Gebrauch des Kondoms als eingängige, leicht verständliche Präventionsbotschaft unverzichtbar.“ Das Gummi, so Rasokat, sei längst ein „Synonym für alle Safer-Sex-Praktiken“.
„Mit der Kondom-Botschaft sind enorme Erfolge erzielt worden“
Das Kondom steht für Safer Sex – und 25 Jahre erfolgreiche Präventionspolitik. Das erklärt vielleicht, warum die neue, genauso wirksame Viruslastmethode derzeit noch ein Imageproblem hat. „Mit der Kondom-Botschaft sind enorme Erfolge erzielt worden“, sagt der Münchner HIV-Schwerpunktarzt Hans Jäger, der die Aidsdebatte von Anfang an verfolgt hat. Gerade bei schwulen Männern. 70 Prozent von ihnen berichten in Langzeitstudien, dass sie in den zwölf Monaten vor der Befragung keinerlei Übertragungsrisiko gehabt haben. Diese Ziffer steht seit Jahren felsenfest und erklärt, warum es in Deutschland verhältnismäßig wenige Neuinfektionen gibt. „Es ist erstaunlich, dass gerade schwule Männer die klassischen Safer-Sex-Regeln über so viele Jahre so konsequent befolgt haben“, sagt Jäger. „Aber irgendwann kam dieses Werkzeug der HIV-Prävention an einen Punkt, wo es nicht mehr weiterging. Sexualität ist ja gerade das Loslassen-Können – nicht die rationale Kontrolle. Insofern kann die gute Behandelbarkeit der HIV-Infektion gerade in der Prävention neue Impulse setzen und die verhaltensorientierte Prävention hervorragend ergänzen.“
Auf der Konferenz „HIV Kontrovers 2012“ wurde das Thema Viruslastmethode in der HIV-Prävention ausführlich diskutiert. Eine Dokumentation der Konferenz ist ab Februar 2013 erhältlich unter hivkontrovers.de
Weitere Beiträge in dieser Serie:
HIV-positiv + behandelt = nicht ansteckend! Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 1
Gar keine Angst mehr – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 2
Effektiver Schutz mit Imageproblem – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 3
Taugt die HIV-Therapie zur HIV-Prävention? Ein Expertenstreit – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 4
Gesundes Volksempfinden – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 5
Es geht um Menschen, nicht nur um Laborwerte – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 6
Ein wichtiges Signal für das Zusammenleben – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 7