Generika? Sind das nicht diese Pillen, bei denen Oma sich jedes Mal in der Apotheke fragt, ob sie wirklich die gleichen Medikamente wie letztes Mal bekommt? Das hat doch nichts mit mir als HIV-Positivem zu tun, oder? Oh doch, hat es – 2013 werden auch wir „Kontakt aufnehmen“, um es mit dem Titel eines Science-Fiction-Films zu sagen. Mit HIV-Generika nämlich, wirkstoffgleichen Kopien von HIV-Markenmedikamenten.
Arzneimittel haben nach ihrer Zulassung für eine bestimmte Zeit einen Schutz: Nur der Inhaber des Patentrechts darf die Substanz herstellen und vermarkten – eine Art Monopol, mit dem der „Erfinder“ geschützt werden soll. Nach Ablauf des Patentschutzes (in der EU bei Medikamenten in der Regel 15 Jahre nach der Erstzulassung) darf der Wirkstoff auch von anderen Unternehmen hergestellt werden.
Generika spielen bisher in der HIV-Therapie bei uns keine große Rolle. Zwar ist bei einigen Substanzen der Patentschutz auch in Europa schon ausgelaufen, so bei Zidovudin (AZT) im Jahr 2006, Didanosin (ddI) 2006, Saquinavir sowie Lamivudin (3TC) 2011 und Stavudin (d4T) 2011. Kaum ein HIV-Positiver allerdings nimmt diese Medikamente heute noch im Rahmen seiner Kombinationstherapie ein.
Erste Hersteller sollen schon in den Startlöchern stehen
Im Juni 2013 jedoch verliert Nevirapin den Patentschutz, ein häufig verordnetes HIV-Medikament, das gemäß den Europäischen Therapieleitlinien auch für den Therapiebeginn empfohlen wird. Dann können auch andere Unternehmen die Substanz, die bisher exklusiv vom Pharmakonzern Boehringer Ingelheim unter dem Handelsnamen Viramune® vermarktet wird, herstellen und auf den Markt bringen.
Erste Hersteller, so ist zu hören, stehen bereits in den Startlöchern, um den für sie interessanten Markt zu bedienen. Das dürfte zu einem sinkenden Preis führen, vermutlich auch beim Original-Präparat Viramune®.
Und Nevirapin ist erst der Anfang: Bereits im November 2013 folgt Efavirenz. Bisher wird die Substanz unter dem Handelsnamen Sustiva® (in manchen Staaten auch unter dem Handelsnamen Stocrin®) vermarktet. Enthalten ist sie auch im Kombinationspräparat Atripla®. Auch hier gilt: Ab November 2013 können generische Versionen von Efavirenz in Europa vermarktet werden. Ein israelischer Generika-Hersteller soll bereitstehen, ab dem Tag des Patent-Endes auch tatsächlich Efavirenz-Generika liefern zu können.
Ritonavir (Handelsname Norvir®) verliert ebenfalls Ende 2013 den Patentschutz (allerdings nur für die Kapsel-Formulierung, die hitzestabile Pille ist weiterhin patentiert). Und in den kommenden Jahren folgen weitere Substanzen: Abacavir (Handelsname Ziagen®) Anfang 2016, Lopinavir (Kaletra®) Ende 2016 und 2017 dann Tenofovir (Viread®, auch in Truvada®, Atripla® und Eviplera®).
Wir werden uns nicht nur an neue Namen gewöhnen müssen
Nun könnten Tom Positiv und Vera Positiva denken: Was geht mich das mit den Patenten und den Generika an? Nun, das geht ihn, sie, uns vermutlich recht bald etwas an: Schon bald dürften Handelsnamen, die uns lange begleiteten, seltener auftauchen. Wir werden uns stattdessen an andere Namen gewöhnen müssen: an die INN, die International Nonpropietory Names, die bei der Welt-Gesundheits-Organisation WHO registriert sind und weltweit unabhängig vom Hersteller gelten (wie Nevirapin für den Wirkstoff des Präparats, das bisher unter dem Namen Viramune® patentgeschützt war).
Doch die Veränderungen, die sich durch die Verfügbarkeit von HIV-Generika ergeben, werden viel weiter reichen: Bislang interessiert sich kaum ein HIV-Positiver für die Kosten seiner Therapie. Das dürfte sich ändern, Diskussionen dürften aufkommen, denn Generika kosten oftmals nur einen Bruchteil des Preises patentgeschützter Medikamente.
Krankenkassen werden sich vermutlich bald die Frage stellen, warum sie teure patentgeschützte HIV-Medikamente zahlen sollen, wenn es doch vielleicht auch Generika tun würden?
Ist die Therapie-Freiheit in Gefahr?
Das könnte auch Ärzte unter Druck setzen, wenn sie weiterhin teure Patent-Medikamente verordnen? Ist der Vorteil der Therapie mit den „Originalmedikamenten“ wirklich so gravierend, dass er die Mehrkosten wert ist? Die bisherige Therapie-Freiheit könnte angesichts der Kosten-Diskussion in Gefahr geraten. Kein rein abstrakter Gedanke, wie ein Beispiel zeigt:
Nehmen wir an, Tom Positiv nimmt heute Atripla®. Bei Atripla® kostet eine Monats-Ration (30 Tage) derzeit 1.239,86 Euro. Nun ist Atripla® ist eine Kombi-Pille aus den Substanzen Emtricitabin, Tenofovir und Efavirenz. Efavirenz verliert im November 2013 seinen Patentschutz, und Emtricitabin (das weiterhin Patentschutz hat) ließe sich leicht durch das äußerst ähnliche Lamivudin (Patentschutz abgelaufen) ersetzen. Tom Positiv könnte also vielleicht anstelle von Atripla® auch generisches Efavirenz, generisches Lamivudin sowie (weiterhin patentgeschütztes) Tenofovir einnehmen. Kostensenkungen von über 50 % seien auf diese Weise möglich, kalkulieren Forscher, bei nahezu gleicher Wirkung … wenn der Patient statt bisher täglich einer Kombinationspillen nun zwei oder drei Pillen nimmt.
Das Kostensenkungs-Potenzial scheint beträchtlich: Forscher haben bereits genauer ausgerechnet [1], welchen Betrag das US-Gesundheitssystem sparen könnte, wenn statt Atripla® zukünftig generische Versionen von Lamivudin sowie Efavirenz plus (weiterhin patentgeschützes) Tenofovir verordnet werden würden. Ihr Ergebnis: 920 Millionen US-Dollar – jährlich. Dimensionen, bei denen auch das Gesundheitssystem in Deutschland sich Fragen stellen wird …
Generische Versionen von Aids-Medikamenten werden vermutlich bald auch bei uns Teil der Lebensrealität HIV-Positiver werden. Und sie könnten zu weitreichenden Konsequenzen führen: Die Gefahr besteht, dass Therapie-Entscheidungen nicht mehr nur aus medizinischen Gründen getroffen werden, sondern dass zunehmend auch wirtschaftliche Aspekte einfließen, sodass mittelfristig die Therapiefreiheit in Bedrängnis geraten könnte.
[1] R.P. Walensky et al.: The clinical and economic impact of a generic first-line antiretroviral regimen in the U.S.. XIX International Aids Conference, Washington 2012, abstract