Vor fünf Jahren brach das EKAF-Statement ein Tabu: HIV-Positive unter wirksamer Therapie sind sexuell nicht ansteckend, hieß es darin. Damals war die Aufregung groß, doch inzwischen bestätigen viele Studien die Schweizer Stellungnahme. Nun stellt sich die Frage: Inwieweit verändern die Therapie-Erfolge die HIV-Prävention? Von Philip Eicker
Auch ein kleines Land kann ein großes Echo auslösen. In diesem Fall war es die Schweiz. Vor fünf Jahren, am 30. Januar 2008, verkündete die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) in der Schweizerischen Ärztezeitung: Menschen mit HIV können ungeschützt Sex haben – ohne ihren Partner anzustecken. Als Voraussetzung nannte die EKAF: Die Betroffenen nehmen regelmäßig antiretrovirale Medikamente und lassen deren Wirkung ärztlich überwachen. Die im Labor gemessene Virenmenge im Blut muss seit sechs Monaten unter der Nachweisgrenze liegen. Außerdem dürfen keine sexuell übertragbaren Infektionen wie z.B. Herpes vorliegen.
Das EKAF-Statement war nur ein kurzer Artikel, aber ein riesiger Fortschritt für Menschen, die mit HIV leben. Sie verspürten eine große Erleichterung. Der Münchner HIV-Spezialist Hans Jäger erinnert sich: „Das Entscheidende für meine Patienten war, dass sie sich von nun an nicht mehr als Gefährdungspotenzial erlebt haben. Das war eine sehr wichtige psychische Reaktion auf diese eigentlich rein biologische Erkenntnis aus der Schweiz.“
Auch Maya Czjaka, damals im Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe, sagte im Februar 2008: „EKAF bedeutet zuerst einmal eine wesentliche Erleichterung und Ent-Ängstigung … sowohl für den HIV-negativen Part, weil die Ängste vor Ansteckung auf ein wesentlich realistischeres Maß reduziert werden können, aber auch für den HIV-positiven Part, der in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle massive Ängste hat, den HIV-negativen Partner anzustecken.“
Gleichzeitig erntete das international beachtete „Swiss Statement“ scharfe Kritik. Das „Okay“ zum Kondomverzicht „könnte den Präventionskampagnen auch in Deutschland einen Bärendienst erweisen“, warnte die Ärztezeitung, denn es werde „einige Menschen geben, die die Botschaft miss- oder nur halb verstehen und dadurch sich oder ihren Partner dem Risiko einer HIV-Infektion aussetzen“. Die FAZ fand es bedenklich, Menschen mit HIV „eine Art Persilschein der Nichtinfektiosität“ auszustellen. Noch am Tag der Veröffentlichung zog das Berner Bundesamt für Gesundheit die Notbremse und relativierte die EKAF-Aussage. Diese gelte in der Schweiz nur für „wenige tausend Personen, welche ganz strenge Vorgaben erfüllen“, insbesondere Paare, die sich Kinder wünschten.
Wo kein Virus, da auch keine Ansteckung!
Im Rückblick wirkt die Aufregung erstaunlich. Denn im EKAF-Statement stand nichts Neues. Die Schweizer hatten nur zusammengefasst, was in der Wissenschaft und Behandlungspraxis seit Jahren bekannt war: Die Kombinationstherapien wirken so gut, dass bei den meisten HIV-Patienten nach einigen Wochen keine Viren mehr im Blut zu finden sind. Selbst hochempfindliche HIV-Tests fallen dann negativ aus. In der Fachsprache heißt das: Die Viruslast ist unter der Nachweisgrenze. Und in der Regel bedeutet das, dass die Virusmenge auch in den anderen Körperflüssigkeiten, die beim Sex eine Rolle spielen (Sperma, Scheidensekret, Flüssigkeitsfilm auf der Darmschleimhaut) gering ist. Eine Übertragung der Immunschwächekrankheit ist dann auch beim ungeschützten Sex unwahrscheinlich – wo kein Virus, da auch keine Ansteckung. Viele Ärzte hatten diese beruhigende Information bereits an ihre HIV-Patienten weitergegeben.
Der Streit kreiste und kreist bis heute vor allem um die Frage, ob die frohe Botschaft auch für schwule Männer gilt – die damals vorliegenden Daten bezogen sich vor allem auf Heterosexuelle – und ob man sie öffentlich verkünden dürfe. Die Deutsche AIDS-Hilfe entschied sich schließlich für Offenheit und verabschiedete im April 2009 ihr Positionspapier „HIV-Therapie und Prävention“, welches das EKAF-Statement unterstützt und für die Praxis anwendbar macht. Darin heißt es etwas vorsichtiger, dass eine HIV-Übertragung bei funktionierender und kontrollierter Therapie unwahrscheinlich ist.
Fünf Jahre später hat sich die Aufregung weitgehend gelegt. Das liegt auch daran, dass die EKAF-Botschaft inzwischen durch die große Vergleichsstudie HPTN 052 wissenschaftlich bestätigt wurde. Ihr Ergebnis: Eine gut funktionierende HIV-Therapie hat einen Schutzeffekt von etwa 96 Prozent. Als die Studienergebnisse 2011 auf einem Aidskongress in Rom vorgestellt wurden, erhoben sich die Anwesenden zu Standing Ovations – ein unter Wissenschaftlern eher seltener Gefühlsausbruch. Mehrere andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Zum Vergleich: Beim Kondom geht man von einer Schutzwirkung von 95 Prozent aus – hier kommt es nicht selten zu Anwendungsfehlern.
Es gibt inzwischen einen breiten wissenschaftlichen Konsens
„Es gibt inzwischen einen breiten wissenschaftlichen Konsens, und der heißt: Unter funktionierender HIV-Therapie ist eine Infektion unwahrscheinlich“, sagt Armin Schafberger, Medizinreferent der Deutschen AIDS-Hilfe. „Die Menge der Studien zeigt in die gleiche Richtung: Das Risiko geht gegen Null.“ Zwar gebe es immer wieder Daten, wonach die Viruslast zum Beispiel im Sperma auch bei funktionierender Therapie vorübergehend leicht ansteigen könne. Entscheidend sei aber, ob es tatsächlich zu HIV-Übertragungen komme, und da seien die Daten der HPTN-Studie sehr ermutigend.
Einen Haken haben die Erkenntnisse aber immer noch: Die guten Werte wurden bei heterosexuellen Paaren ermittelt. In Westeuropa aber stecken sich vor allem schwule Männer mit HIV an. Im ersten Fall ist meist Vaginalsex der Übertragungsweg, im zweiten Analsex. Trotzdem hält Schafberger die Daten für übertragbar, die Safer-Sex-Botschaft müsse entsprechend ergänzt werden: „Der Schutzeffekt für Heterosexuelle ist so überwältigend gut, dass wir es uns nicht leisten können, 15 Jahre zu warten, bis wir ebenso gute Daten für schwule Männer haben. Als die Aidshilfen die Safer-Sex-Regeln formuliert haben, gab es auch noch keine belastbaren Studien, aber die Notwendigkeit, lebbare Präventionsbotschaften zu entwickeln. Und auch damals war klar: Es geht darum, die Risiken zu minimieren, nicht um ein Nullrisiko.“
Therapie-Erfolge können zur Verringerung von Stigmatisierung und Kriminalisierung beitragen
Die EKAF-Debatte hat sich längst verlagert. Nun geht es nicht mehr darum, ob die guten Nachrichten aus den Arztpraxen an die Öffentlichkeit gelangen dürfen, sondern nur noch darum, wie das passieren sollte. Die klassische Safer-Sex-Botschaft „Kondome schützen“ ist zwar weiterhin gültig, aber ein paar neue Optionen kommen hinzu. Zudem bieten die Therapie-Erfolge die große Chance, die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Menschen mit HIV zu verringern.
Die guten Nachrichten in Sachen HIV werden aber leider von einer bedenklichen Entwicklung eingetrübt: Andere sexuell übertragbare Infektionen feiern gerade ein Comeback. Bei der Syphilis zum Beispiel, die in den 1970ern als ausgerottet galt, steigen die Infektionszahlen seit der Jahrtausendwende wieder an. Für 2011 meldete das Robert Koch-Institut 3.700 neue Fälle. Besonders betroffen: schwule Männer in Großstädten. Das Tückische: Gerade die Syphilis erhöht bei unbehandelten HIV-Positiven die Wahrscheinlichkeit, dass sie HIV übertragen, und bei HIV-Negativen, dass sie sich mit HIV anstecken. Manche Experten finden deshalb, dass Aidshilfen und andere Präventionsprojekte nicht ausgerechnet jetzt über Safer Sex ohne Kondom informieren sollten.
Bisher allerdings sind keine verheerenden Folgen für die Safer-Sex-Moral der Deutschen zu beobachten. Das Schutzverhalten ist gerade unter schwulen Männern unverändert hoch: Zwei Drittel gehen beim Sex nie oder nur sehr selten Risiken ein, ergab die europäische EMIS-Studie. Und der Kondomabsatz in Deutschland war nie höher. 2011 wurde mit 221 Millionen Stück eine neue Rekordmarke gesetzt.
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