„Es geht um den Menschen, nicht nur um Laborwerte“ – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 6

Dr. Hans Jäger (Foto: Axel Griesch)

Dr. Hans Jäger (Foto: Axel Griesch)

Vor fünf Jahren verkündete die Schweizer Aids-Kommission EKAF öffentlich, dass HIV-Positive unter wirksamer Therapie auch ohne Kondome Safer Sex haben können. Der Vorstoß wurde scharf kritisiert. Dabei sprach die EKAF nur aus, was Mediziner längst wussten. Der Münchner HIV-Schwerpunktarzt Hans Jäger über die damalige Empörung und den heutigen Stand der HIV-Therapie

Herr Jäger, wann ist Ihnen erstmals aufgefallen, dass Ihre HIV-Patienten nicht mehr infektiös sind?

Klinisch beobachten wir das schon seit vielen Jahren, ohne dass wir daraus einen Leitsatz abgeleitet hätten. Als dann 2008 das EKAF-Statement veröffentlicht wurde, haben wir uns am Kopf gekratzt und gesagt: Stimmt, darauf hätten wir ja selbst kommen können. Nämlich dass die Wahrscheinlichkeit einer sexuellen Infektion extrem gering ist, wenn ein HIV-Patient erfolgreich behandelt wird. Die Schweizer waren ja sehr vorsichtig und haben formuliert: sechs Monate unter der Nachweisgrenze, regelmäßige ärztliche Kontrolle und keine gleichzeitigen Infektionen im Genitaltrakt. Das war aus unserer Sicht übervorsichtig, denn wir hatten beispielsweise beobachtet, dass bei serodiskordanten Paaren – auch bei Infektionen der Harnwege und auch über lange Zeiträume – keine Übertragungen auf den HIV-negativen Partner stattgefunden hatten. Trotzdem hat die deutsche HIV-Expertenszene rund zwei Jahre gebraucht, um diese Erkenntnis zu verdauen. Zunächst war sehr heftiger Gegenwind zu spüren.

An welche Einwände erinnern Sie sich?

Ein Kollege nannte die schweizerischen Empfehlungen frivol. Oft wurde auch bestritten, dass man diese Erkenntnisse aus heterosexuellen Partnerschaften einfach auf homosexuelle übertragen könne. Die Zeit hat dazu beigetragen, dass diese Diskussion fast völlig abgeebbt ist. Heute würden wohl nur noch wenige Fachleute in Deutschland behaupten, dass das EKAF-Statement frivol sei.

Sie waren schon 1999 auf dem Aidskongress in Essen relativ zuversichtlich …

Vermutlich habe ich mich damals auch noch sehr verhalten geäußert. Es kann aber sein, dass wir zu dem Zeitpunkt diskutierten, wie die Situation bei serodiskordanten Paaren sei. Wir hatten schon seit Jahren HIV-Patientinnen und -Patienten mit Kinderwunsch betreut. Deshalb kann es gut sein, dass ich – aufgrund der damals schon positiven Erfahrungen – Vertrauen in die Wirksamkeit der HIV-Therapie geäußert habe.

Wie haben Ihre langjährigen Patienten reagiert, als Sie ihnen das eröffneten?

Es gab zwei Varianten. Die einen haben eher ungläubig reagiert: Das kann doch nicht sein! Das müssen Sie noch mal nachprüfen! Die wesentlich größere Gruppe hat mit großer Erleichterung reagiert, weil sie sich zuvor als „Virenschleuder“ gefühlt haben. So wurde das natürlich nie ausgesprochen, aber oft im Unbewussten gefühlt. Diesen Patienten konnten wir mit der guten Nachricht sehr helfen, dass ihr Gefühl, eine Gefährdung für andere zu sein, nun unberechtigt war.

Und dass sie jetzt guten Gewissens auf Kondome verzichten konnten.

Viele Patienten wollten bei sexuellen Kontakten gar nicht auf Kondome verzichten. Das war gar nicht ausschlaggebend. Das Entscheidende war, dass sie sich von nun an nicht mehr als Gefährdungspotenzial erlebt haben. Das war eine sehr wichtige psychische Reaktion auf diese in erster Linie biologische Erkenntnis aus der Schweiz.

Was hat sich seit EKAF im alltäglichen Umgang mit Ihren Patienten verändert?

Dadurch, dass wir regelmäßig die Laborwerte kontrollieren, kommen die Patienten regelmäßig zu uns. Wir haben deshalb die Möglichkeit, gemeinsam mit ihnen zu beobachten, wie gut die Verträglichkeit der Medikamente ist, z. B. in der Leber oder der Niere. Gegebenenfalls können wir die Therapie anpassen. Viele Patienten sind stark auf die Laborwerte fixiert. Zum Beispiel fühlen sich manche topfit, aber in ihrem Blut sind ein paar Viren nachweisbar. Die können wir beruhigen. Denn mit ein paar Viren kann der Körper gut umgehen. Nur auf die Laborwerte zu schauen, wäre zu kurz gesprungen. Das müssen wir unseren Patienten hin und wieder in Erinnerung rufen: Es geht um den ganzen Menschen, nicht nur um seine Laborwerte.

Ist denn schon allgemein bekannt, dass HIV-Positive sexuell nicht mehr ansteckend sind?

Zumindest ist die Kenntnis davon weit verbreitet. Genauso wie die Kenntnis über die geringen Nebenwirkungen von HIV-Medikamenten. HIV-Patienten müssen mittlerweile nicht mehr befürchten, Hautausschläge oder Magen-Darm-Probleme zu bekommen. Das ist nur noch sehr selten der Fall. Das Nebenwirkungsspektrum hat sich deutlich verkleinert. Das hat dazu beigetragen, dass viele Patienten heute möglichst früh mit der Therapie beginnen wollen.

War das früher anders?

Ja, früher wollten die meisten möglichst lange ohne Medikamente auskommen. Heute wollen die Patienten ihr Immunsystem unter allen Umständen erhalten. Und sie möchten virenfrei leben, vor allem, um ihren Partner oder andere Sexualpartner nicht anzustecken.

Bremsen Sie Ihre Patienten dann?

Wir bestehen zumindest darauf, einen zweiten Laborbericht abzuwarten, um die Therapie nicht auf einen einzigen Bericht zu stützen. Aber wenn ein Patient behandelt werden will, dann kommen wir dem natürlich nach. Die Beweggründe sind ja nicht von der Hand zu weisen.

Bisher galt die Safer-Sex-Botschaft „Kondome schützen“. Wie müsste man die Botschaft Ihrer Meinung nach modernisieren?

Erst einmal gilt dieser Satz ja uneingeschränkt weiter: Kondome schützen! Nicht nur vor HIV, sondern auch vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen wie z. B. Chlamydien oder Lues. „Kondome schützen“ ist letztlich ein Appell an das rationale Verhalten von Menschen. Heute aber können wir zusätzlich biologisch-medizinische Unterstützung bieten. Von den zahlreichen Studien zur biologisch-medizinischen Prävention schneiden die Studien zu „Therapie als Prävention“ am besten ab. Wenn HIV-Patienten in Therapie sind und sich gemäß dem EKAF-Statement verhalten, sind sie genauso wenig infektiös, wie wenn sie unbehandelt das Kondom verwenden würden. Sie können natürlich beide Schutzmaßnahmen kombinieren. Aber wenn sie nur eine davon ergreifen, ist das auch okay.

Wird HIV-Prävention dadurch komplizierter?

Im Gegenteil! Die Möglichkeiten der HIV-Prävention haben sich durch die erfolgreiche Behandlung der Patienten um Lichtjahre verbessert. Mit der Kondombotschaft sind ja enorme Erfolge erzielt worden. Es ist erstaunlich, dass gerade schwule Männer die klassischen Safer-Sex-Regeln über so viele Jahre so konsequent befolgt haben. Aber irgendwann kam dieses Instrument der HIV-Prävention an einen Punkt, wo es nicht mehr weiterging. Sexualität ist ja gerade das Loslassen-Können, das Freisetzen von Gefühlen, und nicht rationale Kontrolle. Insofern kann die gute Behandelbarkeit der HIV-Infektion gerade in der Prävention neue Impulse setzen und die verhaltensorientierte Prävention hervorragend ergänzen.

Laut einer Befragung des Projekts „positive stimmen“ hat ein Fünftel der HIV-Positiven in Deutschland schon erlebt, dass eine notwendige medizinische Behandlung verweigert wurden – wegen des HIV-Status. Glauben Sie, dass die Stigmatisierung von Positiven durch die Therapieerfolge abnimmt?

Was HIV von anderen chronischen Krankheiten wie etwa Bluthochdruck oder Diabetes unterscheidet, ist heute im Wesentlichen die damit verbundene Stigmatisierung. Selbst im Medizinsystem kommt sie noch vor. Der Grund ist mangelhaftes Wissen über die Behandelbarkeit und die Infektiosität der HIV-Infektion. Viele Ärzte in Deutschland hatten noch nie einen HIV-positiven Patienten in der Praxis. Das liegt auch daran, dass die HIV-Infektion – Gott sei Dank – in Deutschland keine Volkskrankheit ist. Ich halte regelmäßig Vorträge zu HIV. Und da gilt: Vor Oberärzten kann ich fast denselben Vortrag halten wie vor Oberlehrern. Die meisten Ärzte wissen über HIV nicht mehr als ein gut gebildeter Laie. Dieses Nichtwissen führt leider zu Stigmatisierung. Das Ziel muss es sein, die Stigmatisierung im medizinischen und nichtmedizinischen Bereich weiter abzubauen. Ich glaube, wir sind da auf einem guten Weg.

Hans Jäger (65) ist Internist, Mitbegründer und Ärztlicher Leiter des MVZ Karlsplatz in München, seit 1990 eine der größten HIV-Schwerpunktpraxen Deutschlands. Alle zwei Jahre leitet Jäger die Münchner Aids-Tage, die 2014 das nächste Mal stattfinden.

Weitere Beiträge in dieser Serie:

HIV-positiv + behandelt = nicht ansteckend! Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 1
Gar keine Angst mehr – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 2
Effektiver Schutz mit Imageproblem – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 3
Taugt die HIV-Therapie zur HIV-Prävention? Ein Expertenstreit – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 4
Gesundes Volksempfinden – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 5
Es geht um Menschen, nicht nur um Laborwerte – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 6
Ein wichtiges Signal für das Zusammenleben – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 7

 


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