Die “evidenzbasierten Statistiken” der medizinischen Wissenschaft beweisen uns immer wieder, dass alte Menschen häufiger und schwerer an Krankheiten leiden als jüngere Zeitgenossen. Demzufolge erhalten Erstere auch ein erhöhtes Maß an medizinischer und vor allem medikamentöser Fürsorge.
So könnte man sagen: Je kränker ein Mensch ist, desto mehr Medikamente muss er einnehmen. Von daher ist es logisch, dass vor allem ältere Menschen zum Frühstück oft einen bunten Medikamentencocktail zu sich nehmen müssen. Und da die meisten Medikamente über einen beträchtlichen Zeitraum genommen werden müssen (weil sie bestenfalls Symptome ausschalten und nicht die Ursache der Erkrankung beseitigen), liegt die Vermutung nahe, dass diese Medikamente potentiell auch Schäden (unerwünschte Wirkung = Nebenwirkung) anrichten können. Diese “Schäden” beruhen allerdings nicht nur auf der Nebenwirkung eines einzelnen Medikaments, sondern resultieren auch von Wechselwirkungen: diese werden nämlich dadurch erzeugt, wenn mehrere Medikamente gleichzeitig genommen werden.
Wechselwirkung – wechselt da die Wirkung?
Arzneimittelwechselwirkung, Interaktionen – dieses pharmakologische Phänomen kann verschiedene Gestalten annehmen. Wenn z. B. Medikament A und Medikament B eingenommen werden müssen, dann kann A die Wirksamkeit von B verstärken, abschwächen oder vollkommen lahmlegen. Aber auch auf der Seite der Nebenwirkungen können verstärkt Wechselwirkungen eintreten. So wird der Abbau (Metabolisierung) von bestimmten Cholesterinsenkern (Statine) beeinträchtigt, wenn gleichzeitig ein bestimmtes Antibiotikum eingesetzt wird. Dies führt zu hohen Konzentrationen im Blut und den damit verbundenen Nebenwirkungen und sogar zum Tod. Grund für die sich zum Teil potenzierenden Wirkungen bzw. Wirkungslosigkeit liegt in verschiedenen Faktoren:
- Alter: Mit zunehmenden Alter kommt es zu Veränderungen in der menschlichen Physiologie. Die Leberfunktion, Nierenfunktion, Reizleitungsvermögen der Nerven oder das Funktionieren des Knochenmarks z. B. nehmen im Alter signifikant ab.
- Genetik: Gene steuern die Produktion von den Enzymen bzw. Enzymsystemen, die den Abbau der Medikamente bewerkstelligen. Diese Gene sind jedoch nicht notwendigerweise gleich verteilt. Es gibt spezifische Verteilungsmuster auf der Erde. Das heißt, dass bestimmte Gene für die entsprechenden Enzyme kaum oder gar nicht in bestimmten Rassen vorkommen. Beispiel: Das Enzym, das den Alkohol im Blut abbaut, die Alkoholdehydrogenase, ist in Asien deutlich weniger vorhanden als in Europa. Ähnliche Zusammenhänge bestehen auch für Medikamente und deren Enzyme. Der Wissenschaftszweig, der diese Zusammenhänge erforscht und beschreibt, nennt sich Pharmakogenetik.
- Leberkrankheiten und/oder Nierenerkrankungen: Die Konzentrationen von Medikamenten im Blut werden sich signifikant erhöhen, wenn eins der beiden Organe oder gar beide nicht mehr voll funktionsfähig sind. Belasten die Medikamente zudem noch Leber oder Niere, dann führt der erweiterte Stress zu einer weiteren Funktionseinschränkung und damit zu noch mehr Nebenwirkungen.
- Medikamentenspezifische Faktoren: Wichtig ist hier der therapeutische Bereich einer Substanz. Bei Substanzen mit engem therapeutischen Bereich, wie z. B. Theophyllin oder Digitalis, kommt es auf eine exakte Dosierung an, da schwankende Konzentrationen schnell über und unter den wirksamen (= therapeutischen) Bereich fallen. Das wiederum hätte zur Folge, dass es mehr Nebenwirkungen ohne den therapeutischen Effekt zu verstärken bzw. keine Wirksamkeit gibt. Hier ist also der Abstand zwischen effektiver Dosis und toxischer Dosis sehr gering. Aber auch Medikamente mit breitem therapeutischen Bereich können problematisch sein. Dies ist der Fall, wenn eine solche Substanz bei nur minimaler Dosiserhöhung zu unproportional hohen Konzentrationen im Blut führt.
Diese Aufzählung von Faktoren ist im Prinzip auch für die Therapie mit nur einem Medikament gültig. Sie zeigt, wie umfangreich die Faktoren sind, die den Abbau einer Substanz bestimmen. Daraus lässt sich unschwer ableiten, wie kompliziert das Ganze wird, wenn zwei oder noch mehr Substanzen im Spiel sind.
Rücksturz zur Apotheke
Wenn wir diese komplizierte Materie mit der Realität vergleichen, dann muss man betroffen feststellen, dass Mehrfachverschreibungen getätigt werden als wenn man im Karneval in Köln die Kamellen unters Volk wirft. Zu diesen „Kamellen“ gibt es inzwischen sogar zwei Studien, die vom „Wissenschaftlichen Institut der AOK – WidO“ durchgeführt worden sind. Ergebnis der beiden Studien: Circa 25 Prozent der über 65-Jährigen nehmen fünf(!) und mehr Medikamente täglich ein. Eine Reihe von Patienten bekommen einen Medikamentencocktail verschrieben, der mehr schadet als nützt und möglicherweise sogar mit dem Tod enden kann. Dazu kommt dann noch, dass rund 20 Prozent der über 65-Jährigen das eine oder andere Medikament aus dem Cocktail einnehmen müssen, das für ihre Altersgruppe denkbar ungeeignet ist. Kaum einer der Betroffenen weiß um die Tatsache, dass so ein Medikamentencocktail mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Nebenwirkungen führt. Wenn dann noch frei verkäufliche Medikamente, wie z. B. gegen Husten, Fieber, Schnupfen etc., dazukommen, dann kann selbst die beste Leber leicht die Übersicht verlieren. Dass dies keine Ausnahme ist, belegen die beiden bereits erwähnten Studien der AOK, die feststellten, dass ein Drittel der Patienten mit Mehrfachverschreibungen zusätzlich noch auf rezeptfreie Medikamente zurückgreift.
Prof. Georg Hempel von der Universität Münster hat bei seinen Nachforschungen feststellen müssen, dass in Pflege- und Altenheimen über die Hälfte der Bewohner gesundheitliche Probleme aufweisen, deren Ursache in den eingenommenen verschreibungspflichtigen Medikamenten liegt. Weiter stellte er fest, dass bei 10 Prozent der Betroffenen die gesundheitlichen Probleme so ausgeprägt waren, dass „ein Handlungsbedarf bestand“. Oder mit anderen, bösen Worten: Hier werden Menschen krank therapiert. Und anschließend wird mit den gleichen Mitteln versucht, die Kranken wieder gesund zu bekommen. Das erinnert mich an den tollen Rennfahrer, den man auf eine scharfe Kurve aufmerksam macht. Dessen lapidare Antwort ist: „Macht nix. Wenn ich die Erste nicht schaffe, dann nehme ich halt die Nächste“. Wenn ich also mit fünf und mehr Medikamenten meinen Patienten nicht gesund bekomme, dann gebe ich noch ein paar Medikamente mehr. Als wenn die Gesundheit der Menschen von der Menge der eingenommenen Tabletten abhängig wäre.
Aber weder Patienten, noch eine große Anzahl von Ärzten sind sich anscheinend bewusst, dass solche Mehrfachverschreibungen ein Spiel mit dem Feuer ist. Es herrscht auch immer noch die irrige Ansicht, dass Viel viel hilft. Je kränker der Patient ist, desto mehr Medikamente hat er einzunehmen, und umgekehrt. Dass dabei vor allem ältere Menschen, aufgrund der nachlassenden Fähigkeit des Organismus, Substanzen abzubauen, keine Dosierungen von jungen Erwachsenen erhalten sollten, ist den meisten Ärzten nicht bekannt oder nicht bewusst. Ein solches Wissen ist aber unabdingbar, wenn man in Sachen Arzneimittelsicherheit einen Schritt weiter kommen möchte.
Fazit
Wenn Sie noch nicht erkrankt sind, dann können Sie das schnell ändern: Gehen Sie zum Arzt und lassen sich ordentlich viele Medikamente verschreiben. Und treten Nebenwirkungen auf, dafür gibt es ja auch wieder einige Medikamente, die auch Nebenwirkungen erzeugen, für die es dann wieder andere Medikamente gibt usw. Und die „Wissenschaft“, die immer wieder wie der Rennfahrer aus der Kurve fliegt, nennt sich „evidenzbasierte Medizin“.
Meine Empfehlung
Wenn Sie einmal checken wollen, ob Ihre Medikamente möglicherweise Interaktionen hervorrufen können, dann gibt es zwei Wege. Sie besorgen sich die „Rote Liste“ oder gehen auf folgenden Link: http://reference.medscape.com/drug-interactionchecker oder http://www.drugs.com/drug_interactions.html. Diese Wechselwirkungschecker sind auf Englisch. Ein deutsche Pendant dazu wäre https://www.versandapo.de/wechselwirkungen_pruefung.
Was tun bei Patienten, die bereits eine Vielzahl von Medikamenten erhalten? Nun, guter Rat ist teuer. Erstens: Man wird kaum einen Arzt finden der ein einmal verordnetes Medikament eines Kollegen wieder streicht. Der Kollege möchte sich nämlich nicht verantworten, wenn (als Folge) etwas “passieren” sollte. Zweitens: Das Absetzen von Medikamenten kann zu Problemen führen und die sind ambulant (wenn der Patient dann alleine zu Hause ist) nicht zu kontrollieren – bei sehr betagten Patienten schon gleich gar nicht. Deswegen lautet der Rat ja auch immer: “Setzen Sie keine Medikamente selbst ab, sondern nur in Absprache mit Ihrem Verordner.” Ich empfehle bei “verworrenen Fällen” (in denen bereits zahlreiche Medikamente im Spiel sind) nach einer Klinik zu suchen, sich dort stationär aufnehmen zu lassen und dann dort kontrolliert die Medikamente abzusetzen. Dazu braucht man Profis, die sich damit auskennen. Ich habe es bereits erlebt, dass vermeintlich “demente und verworrene” Patienten danach wieder “wie immer” waren. Um es aber erst gar nicht so weit kommen zu lassen, halte ich es für notwendig genau zu prüfen, welche Medikamente man nehmen möchte / kann und welche Alternativen es gibt. Und das ist auch genau ein Grund dafür, warum ich auch hier im Internet schreibe und schreibe…
Mehr dazu in den Beiträgen:
Medikamente – Nebenwirkung TOD
Die “bösen Buben” der Pharmaindustrie beim Schummeln erwischt
Weitere Beiträge finden Sie in diesem Blog in der Kategorie Medikamente und in meinem Yamedo Blog in der Kategorie Medikamente.