Unnötig

Gestern früh im Wartezimmer (ja, auch Weltretter werden manchmal krank) hatte ich das große Vergnügen seltsame Verhaltensweisen und Gespräche mitzuerleben.

Um kurz abzuschweifen, bin ich eigentlich der einzige Mensch auf diesem Planeten, der es als absolut asozial empfindet, im vollbesetzten Wartezimmer auf dem Smartphone Videos zu gucken oder irgendwelche Spiele zu spielen – ohne Kopfhörer, aber mit lautem Ton? Sorry, das geht ja gar nicht. Scheinen andere aber offensichtlich anders zu sehen …

Das Gespräch, dem dieser Artikel hier gewidmet ist, wurde von zwei Patientinnen mittleren Alters geführt. Am Wochenende hat die eine wohl miterlebt, wie ein sturzbetrunkener, weiblicher Kneipengast einfach vom Inhaber in ein Taxi gesetzt und nach Hause geschickt wurde.

Die beiden Patientinnen fanden das unmöglich. Dafür hätte man doch den Notarzt rufen müssen. Wenn da mal was passiert. Das wäre ja so verantwortungslos.

Und ich sitz daneben und beiß mir mit aller Kraft auf die Zunge.

Nein, liebe Leute. Das war nicht verantwortungslos. Es kommt natürlich immer auf die genaue Situation an, aber ein betrunkener Mensch ist kein Grund, die 112 zu wählen.

Was sollen wir denn mit den Leuten machen? Ins Krankenhaus bringen? Und dann? Die werden dort doch entweder nach Hause geschickt (und haben dann das Problem, dass sie von dort irgendwie wieder wegkommen müssen) oder schlafen halt dort ihren Rausch aus. Das könnten sie aber genausogut auch zuhause tun.

Wenn jemand wirklich so betrunken ist, dass er Hilfe braucht, ist das natürlich etwas anderes. Aber 80% der Einsätze, die wir nachts am Wochenende fahren, sind einfach nur irgendwelche Leute, die einen übern Durst getrunken haben, vielleicht ein bisschen die Kneipe vollkotzen und nun bitte notfallmedizinische Zuwendung bekommen sollen.

Schon mal darüber nachgedacht, dass es in einer Stadt (auch in einer Großstadt) nicht unendlich viele Rettungsmittel gibt? In meiner Stadt gibt es nachts genau einen Rettungswagen und einen Notarzt. Wenn wir am Wochenende zwei, drei Einsätze wegen irgendwelcher Besoffskis, die einfach nur ein warmes Bett und viel Schlaf brauchen, fahren, sind wir zwei, drei Stunden gebunden.

Zwei, drei Stunden, in denen hoffentlich kein anderer Mensch wirklich Hilfe braucht. Denn dann muss erst ein Rettungswagen oder ein Notarzt aus einer der Nachbarstädte anreisen. Das dauert ein paar Minuten länger, als ein RTW oder NEF aus unserer Stadt.

Es zeugt von deutlich mehr Verantwortungsbewusstsein, solche Sorgenkinder dann von Angehörigen (Ehepartner? Eltern?) abholen zu lassen bzw sie, falls es Freunde sind, mit nach Hause zu nehmen und sie auf der Couch ihren Rausch ausschlafen zu lassen. Je nach Zustand würde ich sie auch ungern allein nach Hause laufen lassen, vor allem wenn der Weg ein wenig schwieriger ist und Hindernisse (Treppen, stark befahrene Straßen, Teiche, Seen, Flüsse) beinhaltet.
Der Rettungsdienst kann für Betrunkene nicht viel tun, das Krankenhaus und die Polizei übrigens auch nicht. Sowas bindet immer nur Einsatzkräfte, die anderswo vielleicht dringend gebraucht werden.

Und es sind nicht nur die Betrunkenen (bzw die besorgten Freunde und Anwesenden, die dann den Notruf wählen), die Rettungsmittel sinnlos binden.
Traurigerweise muss ich sagen, dass 80% der Einsätze, die ich in einer 24h-Schicht habe, kein Fall für den Rettungsdienst sind.

Die meisten Einsätze sind keine Notfälle. Ein Taxi oder ein Angehöriger mit PKW tut es in den meisten Fällen auch.

In meiner letzten Schicht wurden wir abends gegen 23 Uhr wegen Verstopfung gerufen. Verstopfung. Seit einer Woche. Sorry. Wenn ich nicht mehr sch***** kann und mir deswegen Sorgen mache (was ja durchaus berechtigt sein kann), dann geh ich an einem normalen Wochentag zu einer normalen Uhrzeit zu meinem Hausarzt. Dafür ruft man nicht den Rettungsdienst.

Einmal wurden wir zu einem Kindernotfall alarmiert, gestürztes Kind. Kindernotfälle sind auch für uns sehr belastend, vor allem im Vorfeld, wenn man nicht wirklich weiß, was einen erwartet. Die Alarmfahrt zum Kindernotfall ist wirklich keine angenehme Situation.
Und was hat uns erwartet? Das vierjährige Kind ist rücklinks von der Wippe gefallen. Von der stehenden Wippe. Also aus etwa 20 cm Höhe, maximal. Auf Mulch, also weicher Boden.
Keine Verletzungen am Hinterkopf, keine Hautabschürfungen, keine Beule, keine Bewusstlosigkeit, keine Übelkeit, kein Erbrechen, keine Pupillendifferenz. “Sie hat dann sofort angefangen zu schreien und zu weinen, und da haben wir uns Sorgen gemacht.” Ja, ihr hättet sie auch in euer Auto packen und selbst ins Krankenhaus fahren können.

Ein besonders schöner Fall war “Ich kann nicht schlafen” um zwei Uhr morgens. Ja, wir jetzt auch nicht mehr, danke. Der Patient wollte einfach nur jemanden zum Reden, hat uns auch Tee und Kekse angeboten. Ist ja ganz nett, aber vielleicht doch nicht ganz ein Fall für den Rettungsdienst.

Wie gesagt, ein durchschnittlicher Einsatz dauert etwa eine Stunde. Eine Stunde, in der wir für andere Notfälle nicht zur Verfügung stehen.

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