Am 14. März 1983, heute vor 30 Jahren, erscheint im New York Native als Cover-Story ein Artikel von Larry Kramer „1.112 und weiter ansteigend“ („1,112 and counting“). Der Text, in 17 weiteren Schwulenmagazinen in den ganzen USA nachgedruckt, wird zu einem der Meilensteine des Kampfes gegen Aids. Ein Kalenderblatt von Ulli Würdemann
„Wenn dieser Artikel nicht eure Wut weckt, euren Ärger, eure Rage, eure Aktion – dann haben Schwule auf dieser Erde keine Zukunft mehr.“ [1]
Larry Kramers Text war der vermutlich erste größere Essay über eine damals noch sehr neue Seuche, die noch kurz zuvor als „Schwulenkrebs“ oder GRID (gay related immune deficiency) bezeichnet wurde und gerade erst den Namen Aids erhalten hatte. Kramers „1,112 and counting“ im New York Native war eine einzige wütende Anklage gegen Schweigen, gegen Untätigkeit, gegen Desinteresse.
Wenn wir nicht um unser Leben kämpfen, werden wir sterben
Der New York Native, eine 14-tägig erscheinende schwule Stadtzeitung, war zu Beginn der Aids-Krise das einzige schwule Medium der US-Metropole und galt lange als eines der einflussreichsten Schwulen-Magazine der USA [2]. Kramer nutzte sie als sein Forum:
„Unsere weitere Existenz als schwule Männer in dieser Welt steht auf dem Spiel. Wenn wir nicht um unser Leben kämpfen, werden wir sterben …“ [1]
Die steigende Anzahl der neuen Aids-Fälle und insbesondere der Toten sei erschreckend. Was auch immer es sei, es breite sich schneller und schneller aus, und selbst führende Ärzte und Forscher wüssten nicht, was vor sich ginge (das auslösende Virus wurde Ende 1983 erstmals noch unter anderem Namen beschrieben und erst drei Jahre später als HIV bezeichnet).
Kramer kritisiert nicht nur die Untätigkeit von Politik, Gesundheitsbehörden, Forschung – er greift vor allem die Schwulen und ihre Medien (wie den Advocate, eines der auflagenstärksten US-Homo-Magazine) für ihr Schweigen an:
„Ich habe die Schnauze voll vom Advocate … Ich habe die Schnauze voll von Schwulen, die keine Wohltätigkeitsveranstaltungen für Schwule unterstützen … Ich habe die Schnauze voll von Klemmschwestern … Ich habe die Schnauze voll von all jenen in dieser Community, die mir sagen, ich solle aufhören, Panik auszulösen.
Ich will nicht sterben. Ich kann nur annehmen, dass auch ihr nicht sterben wollt. Können wir gemeinsam kämpfen?“ [1]
Wie viele Schwule müssen noch sterben, bevor ihr endlich den Arsch hoch bekommt?, fragt Kramer. Die Kritik an Untätigkeit, Desinteresse, Schweigen verdichtet sich wenig später in dem Slogan „Schweigen = Tod“ (Silence = Death). Er wurde zu einer der Kern-Aussagen von ACT UP, der Aids-Aktions-Gruppe, die Larry Kramer 1987 mitbegründete. Das Schweigen bringt Kramer auch nahezu 30 Jahre später (anlässlich des 20-jährigen Bestehens von ACT UP) noch in Rage:
„Es fällt mir schwer, diese Überbleibsel früherer Größe anzuklagen, wenn die Schwulen in diesem Land weiterhin in dermaßen großer Passivität und Apathie verharren, so ‚Ach-halt-die Fresse-mit-deinen-ewigen-Warnungen‘.“ [3]
Kramers Text trug wesentlich mit dazu bei, nicht nur die Reaktion von Schwulen auf Aids in den USA zu verändern, sondern auch das US-amerikanische Medizinsystem. Ein im Jahr 2002 im New Yorker veröffentlichtes Larry-Kramer- Portrait [4] betont die Breite und Wucht der Anklage, die Kramer mit „1,112 and counting“ 1983 formulierte: Schreie, die heute beinahe sanftmütig klängen und doch weitreichende Folgen hatten. Viele Patienten informieren sich heute selbst und wollen an ärztlichen Entscheidungen beteiligt sein. Ärzte haben einen großen Teil ihres „Halbgott-in-Weiß“-Images eingebüßt. Patienten werden bei der Erforschung und Zulassung von Arzneimitteln einbezogen. Konkret am Beispiel Aids betont Kramer 2007:
„Jedes einzelne dieser Medikamente gegen HIV ist auf den Markt gekommen, weil Aktivisten es herausquetschten aus diesem System, aus Laboren, aus Pharma-Konzernen, aus der Regierung, ins reale Leben hinein.“ [3]
Du bekommst gar nichts, wenn du nicht dafür kämpfst
Für Kramer selbst, der schon 1983 in seinem Text Aktionen zivilen Ungehorsams forderte, ist seit „1,112 and counting“ die wesentliche Erkenntnis, aus der Passivität auszubrechen, sich zusammenzuschließen und für die eigenen Belange zu kämpfen:
„Du bekommst gar nichts, wenn du nicht dafür kämpfst, vereint und in wahrnehmbarer Anzahl. Wenn ACT UP uns eines gelehrt hat, dann dies.“ [5]
Larry Kramer mag bei so manchem als „schwuler Extremist“ und als arrogante, gelegentlich auch demagogische alternde Tunte verschrien sein – seine Worte haben dazu beigetragen, die Realität nicht nur von HIV-Positiven, sondern von Patienten im Gesundheitssystem generell zu verändern.
Larry Kramer ist Mitgründer von Gay Men’s Health Crisis GMHC (1982) sowie von ACT UP New York (1987). Er ist Autor von Theaterstücken wie „The Normal Heart“ (1985) und Sachbüchern wie „ Reports from the Holocaust: The Story of an AIDS Activist“ (1989/94). Kramer ist mit HIV und Hepatitis B infiziert und erhielt 2001 als einer der ersten HIV-Positiven der USA eine Leber-Transplantation. Kramer lebt mit seinem Partner, dem Architekten David Webster, in New York.
[1] Larry Kramer: 1,112 and Counting – A historic article that helped start the fight against AIDS (Erstveröffentlicht: The New York Native, 14.03.1983)
[2] Der New York Native, der zu Beginn der Aids-Krise ein wichtiges Medium darstellte und Pionierarbeit leistete, wurde später eher zu einem Forum für Verschwörungs-Theorien rund um Aids und wurde von Gruppen wie ACT UP boykottiert.
[3] Ulrich Würdemann: Larry Kramer: Happy Birthday, ACT UP, ondamaris 02.04.2012
[4] Michael Specter: Public Nuisance, in: New Yorker 13.05.2002
[5] Larry Kramer: We are not crumbs; we must not accept crumbs – Rede zum 20. Geburtstag von ACT UP