Noch im April könnte das seit 2007 zwischen der Europäischen Kommission und Indien hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Freihandelsabkommen verabschiedet werden – mit weitreichenden Konsequenzen für die Versorgung von Menschen aus Entwicklungs- und Schwellenländern mit bezahlbaren Medikamenten. Peter Wiessner beschreibt die problematischen Aspekte des Deals und den Druck, dem die indische Regierung momentan ausgesetzt ist.
Sollte das Abkommen unterzeichnet werden, entsteht mit 1,8 Milliarden Menschen die größte Freihandelszone der Welt, ein Markt, der ca. ein Viertel der Weltbevölkerung umfasst. Für Indien ist die EU bereits heute der wichtigste Handelspartner, die EU blickt hoffnungsvoll auf die Erweiterung ihres Absatzmarktes. Die Autoindustrie etwa erwartet die Abschaffung hoher Zölle für den Export. Banken, Versicherungen und Supermärkte möchten sich auf dem indischen Markt gerne frei bewegen können. Auch Indien erhofft sich Vergünstigungen für Exportgüter und erleichterte Visabestimmungen für seine Arbeitsmigranten. Zugleich befürchten viele, die indischen Bauern könnten durch subventionierte europäische Agrarprodukte in den Ruin getrieben werden. Das wäre problematisch, denn bereits jetzt leben 40 Prozent aller Inder unter der Armutsgrenze, ein Viertel der Bevölkerung gilt als unterernährt.
Verhandelt wird auch über das Überleben von Millionen
Viel steht auf dem Spiel. Bei dem Freihandelsabkommen geht es um Profit und Zukunftschancen, die Erweiterung von Absatzmärkten, aber auch um Menschenleben. Indien ist der weltweit größte Hersteller generischer Medikamente, deren Import für die Versorgung von Menschen aus armen Ländern oft die einzige Möglichkeit des Überlebens darstellt. 92 Prozent aller Menschen mit HIV aus Entwicklungs- und Schwellenländer werden mit preiswerten generisch hergestellten HIV-Medikamenten behandelt, die meisten davon aus Indien, der „Apotheke der Armen“. Durch Bestimmungen des Freihandelsabkommens ist die zukünftige Versorgung mit diesen Produkten nun gefährdet.
Dass die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden, ist der Demokratie unwürdig, zumal weitreichende Konsequenzen für die Gesundheit der Bevölkerung zu erwarten sind. Geschützt werden hier nicht die Bürger, sondern die finanziellen Interessen der Industrie und der Aktionäre. Vermieden werden soll offensichtlich, dass frühzeitig bekannt wird, worüber verhandelt wird – es könnte sich ja Widerstand formieren. Schon merkwürdig, wenn demokratisch gewählte Politiker und Politikerinnen die Öffentlichkeit scheuen und sich dem nicht aussetzen möchten.
Dabei sah es noch bis vor wenigen Monaten so aus, als ob die Proteste von HIV Aktivisten gegen das Abkommen erfolgreich gewesen wären. Das Ziel der Europäischen Kommission, die Patentlaufzeiten für Medikamente zu verlängern, wurde stillschweigend aufgegeben. Patentlaufzeiten sichern den Pharmaunternehmen ein Marktmonopol: Jedes Jahr Verlängerung spült „automatisch“ Milliarden in die Kassen der Aktionäre. Erst wenn ein Patent abgelaufen ist, können die Hersteller von Generika Nachahmerprodukte produzieren. Diese sind dann zu einem realistischen Preis erhältlich – meist nur ein Bruchteil der Kosten für das durch das Patentrecht „geschützte“ Originalpräparat.
Auch die geplanten Regelungen zum „Schutz“ der Erkenntnisse aus bereits durchgeführten Studien (Stichwort „Datenexklusivität“) wurden von der Europäischen Kommission fallengelassen. Sie hätten den Pharmaunternehmen das alleinige Verwendungsrecht für Daten ihrer Studien zugesichert. Ein Skandal ohnegleichen: Für generisch hergestellte Präparate (mit den gleichen Wirkstoffen und der gleichen Wirkweise wie die Originale) hätten dann ein zweites Mal Studien durchgeführt werden müssen, inklusive aller Risiken, die damit einhergehen. Eine solche „Erforschung“ nur zum Zweck der Wiederholung bereits bekannter Erkenntnisse kann man wohl nur als unethisch bezeichnen – nicht zuletzt deshalb, weil viele Menschen ihre Gesundheit bei der Erforschung neuer Medikamente aufs Spiel setzen. Wissen aus medizinischen Studien sollte in erster Linie im Dienste der Menschheit und nicht wirtschaftlicher Interessen stehen.
Ärzte ohne Grenzen ruft zum Widerstand auf
Wie allmählich bekannt wird, beinhaltet das Freihandelsabkommens aber nach wie vor Regelungen, die den Zugang zu Medikamenten für Entwicklungs- und Schwellenländer erheblich erschweren würden. Der Präsident der Organisation Ärzte ohne Grenzen, Dr. Unni Karunakara, hat die möglichen Auswirkungen in einem Brief an den indischen Premierminister zusammengefasst, in dem er Indien zum Widerstand auffordert.
Die Bestimmungen des Handelsabkommens hintertreiben gültige, durch internationales Handelsrecht festgelegte Bestimmungen, die Indien bisher erlaubten, im festgelegten Rahmen generische Medikamente zu produzieren: Das Vertragswerks enthält die Möglichkeit, alleine bei einem Verdacht auf Vertragsbruch einstweilige Verfügungen zu erlassen, Dritte haftbar zu machen und strenge Grenzkontrollen anzuordnen. Das hätte massive Auswirkungen: Allein schon die Beschuldigung und nicht der Beweis einer Vertragsverletzung würde der pharmazeutischen Industrie zukünftig ausreichen, um die Produktion oder Auslieferung eines generischen Medikamentes zu stoppen. Auch könnten Dritte wie Transportunternehmen, Zwischenhändler oder Dienstleister direkt angezeigt werden. Bei Verhandlungskosten, die leicht in die Millionen gehen können, könnte dies das Aus für viele engagierte Organisationen bedeuten, die in Entwicklungs- oder Schwellenländern aktiv sind und Menschen mit Generika behandeln – wie zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen.
Kein Recht auf „Vollgenuss getätigter Investitionen”!
Problematisch sind auch Ausführungsbestimmungen zum Schutz vorgenommener Investitionen: So soll es ausländischen Investoren zukünftig erlaubt sein, Länder auf Schadenersatz zu verklagen, wenn nationale oder lokale Gesetze oder Gerichtsentscheidungen den „Vollgenuss“ – man muss sich das Wort auf der Zunge zergehen lassen! – der getätigten Investition verhindern. Dies gilt sogar dann, wenn die Handlungen der angeklagten Regierung verfassungskonform und im Einklang mit der nationalen Gesetzgebung stehen. Es ist vorgesehen, dass entsprechende Gerichtsverfahren durch private Schiedsrichter außerhalb des betroffenen Landes und dessen Gerichtssystem entschieden werden. Allem in allem bedeuten Klauseln wie diese die Aufgabe staatlicher Souveränität.
Indien war bisher immer dagegen, „geistiges Eigentumsrecht“ als Investition zu definieren. Bleibt zu hoffen, dass die indische Regierung dem Druck aus Europa standhält und im „Vollgenuss“ ihrer Freiheit eine unabhängige Entscheidung trifft!
Kontakt: peter-wiessner@t-online.de
Quellen/weitere Informationen:
Brief von Ärzte ohne Grenzen an den indischen Premierminister vom 14.3.2013 (in englischer Srache)
Seite der Kampagne „Europa – Hände weg von unseren Medikamenten“ von Ärzte ohne Grenzen
Blog des Netzwerks „Don’t trade our lives away“, das sich für den gerechten Zugang zu Medikamenten einsetzt