Len Tooley ist ein HIV-negativer schwuler Mann, der eine Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) macht: Er nimmt HIV-Medikamente, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Im dritten Teil seines Interviews mit John McCullagh vom kanadischen HIV-Portal PositiveLite.com geht es um Kritik an Männern wie ihm, die Gründe für seinen Schritt in die Öffentlichkeit und seinen Rat an andere, die ebenfalls über eine PrEP nachdenken.
(Original: Len Tooley on PrEP Part Three, 27.2.2013; Übersetzung: Holger Sweers. Herzlichen Dank an John und Len für die Erlaubnis zur Veröffentlichung!)
Len, ich möchte dich bitten, etwas zur Kritik an der PrEP zu sagen. Nicht jeder findet es ja richtig, dass HIV-negative Männer wie du HIV-Medikamente verschrieben bekommen – man solle doch bitte Kondome nehmen, um sich und seine Partner zu schützen, da sind einige ganz entschieden. Der freie Journalist David Duran zum Beispiel hat in seinem Artikel „Truvada Whores?“ in der Huffington Post geschrieben: Ungeschützten Sex zu haben und dieses Risiko bereitwillig einzugehen, nur weil man eine einfach einzunehmende vorbeugende Behandlung macht, ist einfach nur dumm.
Meine erste Reaktion ist: Wow! Da ist ja jemand heftig am Verurteilen und Anprangern. Vielleicht sollte ich mir ein T-Shirt mit der Aufschrift „Truvada-Hure“ machen lassen? Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein …
Mein Kondomgebrauch ist leider nicht perfekt
Aber im Ernst: Ich wünschte, ich könnte selbst dann hundertprozentig sicher sein, mich nicht mit HIV zu infizieren, wenn ich bei jedem einzelnen Analverkehr Kondome verwendete. Und ich wünschte mir auch, Kondome wären aus einem magischen Material, das man weder spürt noch riecht oder sieht. Aber ich weiß auch, dass nicht alle meine Wünsche in Erfüllung gehen …
Ich muss mir leider eingestehen, dass ich nicht in 100 Prozent der Fälle Kondome verwende. Und weil ich schon lange in der HIV-Beratung und -Testung arbeite, weiß ich, dass viele andere Männer auch nicht perfekt sind. Nicht, weil wir es nicht versuchen, sondern weil wir keine Roboter sind. Manchmal sind Kondome eben doch keine unsichtbare Barriere ohne jegliche Auswirkungen auf die Qualität meines Sexlebens. Die Anwendung ist nicht einfach, und zumindest für mich machen sie den Sex viel komplizierter. Ich wünschte, das wäre anders, aber es ist nun mal so.
Ich weiß auch, dass ich den Sex kaum noch genießen könnte, wenn ich nur daran denken müsste, ob ich auch wirklich alles tue, um mich vor HIV oder anderen sexuell übertragbaren Infektionen zu schützen. Wenn ich nur noch risikolose Sachen machen dürfte oder solche mit einem vernachlässigbar geringen Risiko, müsste ich meinem Sexpartner sogar dann ein Gummi überziehen, wenn ich ihm nur einen blasen möchte. Das Risiko, sich beim Blasen mit HIV anzustecken, ist zwar sehr gering, aber beim Sex in einer Epidemie heißt „geringes Risiko“ eben nicht „kein Risiko“.
Ich hab schon Leuten ihr positives HIV-Testergebnis mitteilen müssen, die sich sicher waren, dass sie keinen ungeschützten Analverkehr hatten, und die noch genau den Partner benennen konnten, dem sie einen geblasen hatten, bevor sie dann die Symptome einer frischen HIV-Infektion bekamen. Ihre Geschichten sind mir wirklich im Gedächtnis geblieben, denn sie haben mir gezeigt, dass in meiner Welt „niedriges Risiko“ nicht „Nullrisiko“ bedeutet. Ich möchte aber niemandem einen blasen, der ein Gummi drüber hat. Das heißt: Obwohl das Risiko beim Oralverkehr statistisch sehr gering ist, könnte ich mich dabei trotzdem irgendwann mit HIV infizieren. Das hat mich dazu gebracht, mein Verhältnis zum Risiko zu überdenken, und mir ins Bewusstsein gerufen, dass ich sogar beim Blasen aufpassen muss, weil ich ja einer dieser statistischen Fälle sein könnte. Mir sind solche Fälle untergekommen, ich weiß also, dass es sie gibt. Diese ständige Furcht vor HIV und dieser Stress haben sich äußerst negativ auf mein Leben ausgewirkt, waren bei jedem Date und jedem Sex präsent.
Dave R., der regelmäßig Beiträge für PositiveLite.com schreibt, macht sich unter anderem Sorgen über mögliche Resistenzen gegen eine Truvada-PrEP, schließlich ist Truvada eines der am häufigsten verschriebenen antiretroviralen Medikamente.
Mögliche Resistenzen sind in der Tat ein Problem. Wenn ich jemals positiv getestet werden sollte, möchte ich die Medikamente nehmen, die am besten verträglich sind, und Truvada gehört dazu. Aber ich habe beschlossen, dass ich mit dieser Konsequenz und diesem Risiko leben muss. Das ist für mich eher ein Ansporn, bei meinem Risikomanagement so sorgfältig wie möglich zu sein, mich regelmäßig auf HIV testen zu lassen und meine Einnahmezeiten möglichst genau zu befolgen.
Resistenzen sind ein Risiko, aber damit kann ich leben
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal betonen, dass es wirklich nicht leicht ist, jeden Tat zur selben Zeit mein HIV-Medikament zu nehmen. Dafür braucht es schon wirklich einen festen Vorsatz. Aber ich bin sehr motiviert, weil ich HIV-negativ bleiben will. Ich hab’s nicht so mit Routinen, das gebe ich gerne zu, aber für mich ist es immer noch leichter, jeden Tag zur selben Zeit meine blaue Pille zu nehmen, als ständig mit Furcht und Scham leben zu müssen, weil ich nicht der perfekte Kondomgebraucher bin. Ich möchte HIV-negativ bleiben, also passe ich mein Leben so an, dass ich die Einnahmevorschriften bestmöglich befolgen kann.
Vielen Dank für deine Antwort auf die Kritik an negativen Männern, die eine PrEP machen. Bei uns in Kanada sind es aber nicht nur Leute aus unserer eigenen Community, die diese Bedenken äußern. Auch die Experten und Praktiker sind sich bei der PrEP wie auch beim Prinzip Therapie als Prävention uneins und streiten über ihre Wirksamkeit, obwohl beide Fragen zu den wichtigsten Themen der Internationalen Aids-Konferenz 2012 gehörten. Warum ist Kanada in diesen Fragen so gespalten?
Schwer zu sagen. Wahrscheinlich will niemand den ersten Schritt machen und Botschaften senden, die auf einer ihrer Meinung nach nicht genügend abgesicherten Faktengrundlage basieren. Wissenschaftler, Politiker und Praktiker aus dem Gesundheitssystem halten die Einführung einer neuen Methode, die keine hundertprozentige Sicherheit bietet, offenbar für gefährlich.
Aber die Wissenschaft bietet nie hundertprozentige Sicherheit. Wie mein „Mit-PrEPer“ Jake Sobo in seinem Blog richtig angemerkt hat, hatten die schwulen Männer, die „Safer Sex“ (durch Kondomgebrauch) erfanden, um nicht völlig auf Sex zu verzichten, auch keine Beweise dafür, dass Kondome einen hundertprozentigen Schutz bieten. In meiner Situation kann ich nur dann hundertprozentig sicher sein, mich niemals mit HIV anzustecken, wenn ich völlig abstinent lebe. Ich habe aber nicht dieselben Ansprüche an die Sicherheit wie manche Wissenschaftler, Politiker oder Praktiker – diesen Luxus kann ich mir nicht leisten.
Ich verstehe, dass die PrEP-Skeptiker ihr Zögern als konservativen, vorsichtigen und angemessenen Umgang sehen. Aber für mich sind die vorliegenden Daten aussagekräftig genug. Ich vertraue darauf, dass die PrEP bei konsequenter Anwendung beträchtlich meine Chancen erhöht, mich nicht mit HIV anzustecken.
Und noch eine Anmerkung: Einige positive Männer hatten mit fürchterlich starken Truvada-Nebenwirkungen zu kämpfen. Mit ein paar von ihnen habe ich gesprochen, und sie waren sehr dagegen, dass ich das Medikament nehme, ohne es „wirklich“ zu brauchen. Ich kann verstehen, woher diese starken negativen Gefühle kommen, aber ich wollte selbst entscheiden, wie ich im Fall des Falles damit umgehe. Und wie sich herausgestellt hat, hatte ich überhaupt keine Nebenwirkungen, zumindest bisher nicht. Die einzige echte Wirkung der PrEP ist bislang, dass ich ein bisschen weniger Schuldgefühle und ein bisschen mehr Spaß beim Sex habe.
Warum hast du dich entschlossen, mit deiner Entscheidung für die PrEP an die Öffentlichkeit zu gehen?
Ich komme sowohl im Rahmen meiner Arbeit als auch privat mit ziemlich vielen schwulen Männern ins Gespräch. Aus diesen Gesprächen weiß ich, wie viele von uns versuchen, konsequent Kondome zu verwenden. Und ich weiß auch, dass die Mehrheit der Jungs überhaupt nichts von der PrEP als Option weiß. Ich hatte die Chance und das Privileg, mich mit der PrEP zu beschäftigen und sie als den für mich richtigen Weg zu wählen, und ich will, dass auch andere Männer in einer vergleichbaren Situation sich damit auseinandersetzen können. Ich denke, es ist einfach an der Zeit, dass wir diese Diskussion führen.
Was würdest du anderen raten, die überlegen, ob die PrEP auch für sie eine geeignete HIV-Präventionsstrategie sein könnte?
Erstens: Auch wenn es keine offiziellen kanadischen Leitlinien gibt und Truvada für diese Verwendung in Kanada nicht zugelassen ist: Es ist nicht illegal, einem Patienten die PrEP zu verschreiben. Ärzte haben die Freiheit, Medikamente auch „off-label“ einzusetzen, also außerhalb der eigentlichen Zulassung, wenn sie aufgrund ihrer Erfahrung oder ihrer medizinischen Schlussfolgerungen zu dem Schluss kommen, dass dies im besten Interesse ihres Patienten liegt.
Zweitens möchte ich klar und deutlich sagen, dass mir bewusst ist, wie sehr ich mich mit der PrEP aus dem Fenster lehne. Ich weiß, dass mich diese Strategie nicht zu 100 Prozent vor einer HIV-Ansteckung schützt, und habe dies auch bei jeder Safer-Sex-Entscheidung im Hinterkopf. Wie hoch mein Risiko ist, kann man nicht genau beziffern, aber für mich und andere, die Sex in einer Epidemie haben, ist risikofreier Sex eher Traum als Realität.
Drittens: Ich nehme die PrEP heute täglich ein, aber in der Zukunft könnte es andere Möglichkeiten geben. So wird zum Beispiel in Montreal gerade die PrEp-Studie IPERGAY durchgeführt, in der die „intermittierende“, also zeitweilige Einnahme untersucht wird. Das heißt, man fängt einen Tag, bevor man „riskanten Sex“ haben könnte, mit der Einnahme an, macht dann weiter an den Tagen, an denen man „riskanten Sex“ hat, und nimmt anschließend noch zwei weitere Tage lang täglich eine Pille. Andere Forscher untersuchen eine Form der PrEP, die per Dreimonats-Depotspritze verabreicht wird, sodass die Substanz langsam ins Blut abgegeben wird. Die PrEP der Zukunft könnte also ganz anders aussehen als die PrEP, die ich heute mache.
Und last but not least ist mir wichtig, dass ich nur eine einzelne Person mit einer Geschichte bin. Aufgrund meiner Ausbildung, meines Jobs, meines Wissens und der Fähigkeit, für meine eigenen Interessen einzutreten, hatte ich das besondere Privileg des Zugangs zur PrEP – und auch, weil ich ein weißer, schwuler Mann mit Universitätsausbildung bin. Ich bin dankbar dafür, dass ich wegen all dieser Faktoren eine PrEP bekomme. Aber es ist ein Problem, dass andere keinen Zugang zu diesen Informationen haben – und selbst wenn sie ihn hätten, hätten sie vielleicht keinen Zugang zu diesem auch für sie wirksamen Präventionsmittel.
Ich habe Zugang zur PrEP, viele andere nicht. Das ist ungerecht!
Meine Geschichte ist ein weiteres Beispiel für weiße schwule Männer, die Zugang zu den neuesten Technologien und Informationen und einer angemessenen Gesundheitsversorgung haben, über die Fähigkeit und den Willen verfügen, für die eigenen Interessen einzutreten, und viele weitere Privilegien genießen. Es ist ungerecht, dass die meisten Schwulen, Bisexuellen, Inter*- und Trans*-Menschen in Gesundheitssystemen leben müssen, in denen es kein Verständnis für ihre HIV-Präventions-Bedürfnisse gibt (geschweige denn für ihre darüber hinausgehenden gesundheitlichen Bedürfnisse), in denen die PrEP völlig unbekannt ist und in denen es keine Hausärzte gibt – oder keine, mit denen sie offen über ihre sexuelle oder Geschlechtsorientierung sprechen können. Viele von uns haben auch keinen Zugang zu einer Krankenversicherung, nicht einmal, um die Kosten für ganz einfache, günstige Medikamente zu decken, die unser Leben erleichtern. Das gilt besonders für diejenigen in unserer Szene, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Die PrEP ist nur ein kleines Teil eines großen Puzzles, das unsere Community – HIV-Positive und HIV-Negative gemeinsam – lösen muss.
Danke für das Interview, Len!
Gerne, John!
Teil 1 des Interview mit Len Tooley finden Sie hier, den zweiten Teil hier.