Jan Stressenreuter erzählt in seinem bemerkenswerten Roman „Wie Jakob die Zeit verlor“, wie Aids das Leben und die Beziehung zweier schwuler Paare bestimmt. Von Axel Schock
Wenn es doch nur so einfach wäre. Alles rein in den Karton und weg damit in die Abstellkammer. Briefe, Fotos und andere allzu private Gegenstände mag man auf diese Weise in dunkle Ecken verbannen können. Der Erinnerungen allerdings, die mit diesen Memorabilien verbunden sind, kann man sich gewöhnlich derart pragmatisch nicht entledigen. Für Jakob, die Titelfigur in Jan Stressenreuters neuem Roman, sind sie zu einem Problem geworden.
Von außen betrachtet erscheint sein Leben als geradezu gutbürgerliches Idyll. Seine Gärtnerei hat er zu einem florierenden Unternehmen aufgebaut. Die geräumige, sonnige Wohnung liegt in bester Kölner Altstadtlage; und Arne, der Mann, mit dem er sie teilt, ist ihm seit bald einem Jahrzehnt in tiefer Liebe verbunden.
Arnes Rivale ist ein verstorbener Mann
Doch Arne ist sich zunehmend unsicherer, ob seine Gefühle tatsächlich in gleichem Maße erwidert werden. Denn in Jakobs Leben gibt es noch einen anderen Mann, der Jakobs Denken und Leben seit fast 30 Jahren beherrscht. Gegen ihn, da ist sich Arne sicher, wird er nie ankommen, und Jakob nie von ihm loskommen. Und dabei ist Marius – Jakobs erste, große Liebe – schon so viele Jahre tot.
Es reicht eben nicht, Fotos und Briefe in eine Kiste wegzupacken, um sich von all dem zu befreien, was mit ihnen verbunden ist: Schmerz und Glück, Trauer und Abschied – und das bis in die Gegenwart belastende Gefühl von Schuld und Versagen.
Jan Stressenreuters Roman setzt zu einem Zeitpunkt ein, als beide Männer zu einer für sie wichtigen Erkenntnis gekommen sind: Arne will und kann so nicht weiter mit Jakob zusammenleben und muss deshalb eine Entscheidung herbeiführen. Und Jakob ist durch seine Psychologin an einen Punkt gekommen, an dem er ihr gegenüber sein Geheimnis nicht länger verheimlichen kann; er bricht daher die Therapie ab.
So betrachtet ist „Wie Jakob die Zeit verlor“ zunächst einmal ein Beziehungsroman über gleich zwei komplizierte Männerbindungen. Doch Stressenreuter erzählt nicht nur von Jakobs und Arnes speziellen Midlife- und Lebenskrisen, sondern blendet immer wieder zurück in die 80er Jahre, als der Student Jakob in einer Kölner Disco den gleichaltrigen Marius kennenlernt.
Zwei junge Männer, die die Liebe entdecken, denen der Sex mit dem Partner allein nicht genug ist, die deshalb auch nach Abenteuern außerhalb ihrer Beziehung suchen und sich eine gemeinsame Zukunft erträumen. Doch ihre Unbekümmertheit, Aufbruchsstimmung und Entdeckerlust sind mit einem Schlag zunichte gemacht, als beide ihr positives Test-Ergebnis erhalten und Marius an Aids erkrankt.
Liebes- und Aids-Roman
„Wie Jakob die Zeit verlor“ ist also nicht nur ein Liebes-, sondern auch ein sogenannter Aidsroman. Ein Label, das in den Ohren von Verlegern und Buchhändlern immer auch ein bisschen nach Ladenhüter klingt. Denn über Aids wollen Menschen ungern sprechen, noch weniger aber wollen sie darüber lesen. Tatsächlich ist in den letzten zehn Jahren kaum mehr ein deutschsprachiger Roman erschienen, der das Leben mit dem Virus ausführlicher thematisiert hätte.
Simon Froehlings „Lange Nächte Tag“ von 2010 über einen frisch HIV-infizierten jungen schwulen Mann ist da eine seltene Ausnahme. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahren sah dies noch ganz anders aus. Vor allem autobiografische Bücher HIV-positiver Autoren fanden seinerzeit den Weg in die Buchhandlungen.
Stressenreuter, Jahrgang 1961, erzählt nun ebenfalls von dieser ersten Phase der Epidemie, jedoch mit entsprechendem historischen Abstand. Autobiografisch im engeren Sinne dürfte das Werk des Kölner Romanciers jedoch nicht sein.
Dafür ist Stressenreuter die Handlung zum Ende ein wenig zu konstruiert geraten, und zudem hat er einschneidende Ereignisse in Jakobs gegenwärtigem Leben – mal mehr, mal weniger augenfällig und kunstfertig – als Echo und Spiegelung der einstigen Beziehung zu Marius entwickelt. Doch ungeachtet dessen entwirft Stressenreuter gerade durch die kleinen, oft wie beiläufig eingestreuten Details ein bemerkenswert authentisches Zeitbild.
Authentisches Zeitbild der Aidskrise in den 80er Jahren
Anders als in seinem letztem großen Roman „Mit seinen Augen“, in dem er die beklemmende Lebenssituation schwuler Männer in den spießigen 50er Jahren rekonstruierte, ist Stressenreuter nicht in erster Linie auf seine Recherchen angewiesen, sondern konnte hier eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse einarbeiten. Es sind nicht zuletzt diese oft beiläufig eingeflochtenen Details und Momentaufnahmen, die die Qualität dieses Buches auszeichnen.
Da sind die verkrampften Gespräche mit den ahnungslosen Eltern, die bis zuletzt Marius’ Schwulsein ebenso leugnen wie seine Erkrankung. Oder die vorwurfsvollen Blicke der Kneipengäste, ihr schamloses Getuschel, als sie den rötlich violetten Fleck an Marius’ Hals als Kaposi-Sarkom und damit deutliches Zeichen der Aidserkrankung identifiziert haben: „ein Brandmal, ein Schandmal“.
Das Auf und Ab der Helferzellen im Blut wird mit gleicher, fast atemloser Spannung verfolgt wie von Börsianern die Entwicklung der Aktienkurse. Stressenreuter schildert ein überfordertes Gesundheitssystem, in dem Ärzte ratlos sind und das Pflegepersonal keine Scheu hat, seine Ressentiments gegenüber den Aids-Patienten zu zeigen. Und schließlich begleitet der Autor Marius durch alle Phasen seiner Erkrankung bis zu seinem Tod.
Die Geschichte von Marius und Jakob, wie sie Stressenreuter hier einfühlsam, aber in zugleich nüchtern wie pointierter Weise entfaltet, steht so gleichermaßen exemplarisch für eine ganze Generation und deren Erfahrungen mit Aids.
Exemplarisches Schicksal für eine ganze Generation
Wer diese Zeiten miterlebt hat, wird sich in diesem Roman allenthalben mit den eigenen Erinnerungen konfrontiert sehen. Für die Nachgeborenen wiederum bietet diese Erzählebene des Romans ein eindringliches und authentisches Zeitbild, das Stressenreuter zudem kapitelweise mit kurzen Newsflashs zu den wichtigen politischen Ereignissen wie auch den weltweiten Entwicklungen in Sachen Aids unterfüttert hat.
Was die Epidemie betrifft, so sind die 80er Jahre geprägt von Verunsicherung, Panik und Ausgrenzung, von Wut und Hilflosigkeit angesichts der massenhaften Erkrankungen und Todesfälle. Ganz anders hingegen Jakobs Gegenwart. Dank der Medikamententherapie ist das Virus im Griff, den Nebenwirkungen wie der unliebsamen Fettumverteilung begegnet er mit einer gewissen Resignation und Altersgelassenheit.
Die Tabletteneinnahme „ist zu einer Gewohnheit geworden, zu einer Alltagshandlung, über die er nicht mehr nachdenkt. Eine blaue Tablette, eine weiße, eine bunte, möglichst regelmäßig, möglichst im Abstand von zwölf Stunden.“
Leben in Zeiten der Aids-Therapie und des Safer Sex
Und mag das Kondom auch über die vielen Jahre hinweg in seinem Sexleben ein unliebsamer Fremdkörper geblieben sein, so bestimmt die Infektion längst nicht mehr sein Denken und Leben. Auch davon, vom Leben mit HIV heute, dem Älterwerden mit dem Virus und dem Älterwerden an sich, erzählt Stressenreuter und liefert so das glaubwürdige wie realistische Bild eines „Langzeitüberlebenden“. Wann hat man darüber in einem Roman lesen können? Und so füllt Stressenreuters Roman auch diese Lücke in der deutschsprachigen Literatur. Allein deshalb schon wünscht man diesem Buch, das nebenbei auf sehr gefühlvolle Weise unterhält, großen Erfolg.
Jan Stressenreuter: „Wie Jakob die Zeit verlor“. Roman, Querverlag, broschiert, 352 Seiten, 14,90 Euro
Weiterführende Links:
Internetseite des Autors www.stressenreuter.de
Interview mit Jan Stressenreuter über seinen Roman „Wie Jakob die Zeit verlor“ im DAH-Blog
Lesungen von Jan Stressenreuter:
23. Mai, 19.30 Uhr, KCM Schwulenzentrum e.V., Am Hawerkamp 31, 48155 Münster
10. Juni, 20.30 Uhr, Waldschlösschen, 37130 Reinhausen (im Rahmen des Bundespositiventreffens)
6. August, 19 Uhr, AIDS-Hilfe Stuttgart e.V., Johannesstraße 19, 70176 Stuttgart
19. August, 20 Uhr, AIDS-Hilfe Kassel e.V., Motzstraße 1, 34117 Kassel
Weitere Termine sind in Planung.