Ein Bericht von Tobias Vogt über seinen Einsatz in Kalkutta, Indien.
Tania Routh ist fünf Jahre alt und lebt in einem innerstädtischen Slum von Kalkutta. Seit einigen Wochen hustet sie und will immer weniger Nahrung zu sich nehmen. Seit Wochen hat sie auch jede Nacht Fieber. Sie verliert kontinuierlich an Gewicht und wird immer schwächer. Ihre Eltern stellen sie einem der Heilpraktiker des örtlichen Slums vor. Der Heilpraktiker ist dort aufgewachsen und kennt die Nöte der Menschen im Slum genau. Er gehört derselben Religion an wie die Familie und seine Muttersprache ist derselbe Dialekt, derjenige der Landflüchtigen aus dem Nachbarbundesstaat Bihar. Ein Heilpraktiker verlangt nur einen Bruchteil des Honorars, das die qualifizierten Ärzte der Stadt forden. Qualifizierte Ärzte würden sich in einem solchen Slum schon gar nicht niederlassen. Die Menschen wissen genau, dass der Heilpraktiker mit seiner Diagnose oft daneben liegt und vor allem Hustensaft und Vitamine verschreibt, aber er ist nun mal ihr erster Ansprechpartner. Krankenversichert ist ja niemand in dem Slum, so dass man darauf achten muss was die Haushaltskasse hergibt wenn jemand krank wird. Leider helfen die Medikamente des Heilpraktikers bei Tania nicht. Sie wird immer schwächer und dünner und kann sich bald kaum noch auf den Beinen halten.
Tanias Familie bringt ihre Tochter nun zu einer Armenambulanz der German Doctors. Viele aus dem Viertel kommen zu uns, wenn die Behandung eines Heilpraktikers fehlschlägt. Die German Doctors, sieben deutsche Ärzte der Hilfsorganisation Ärzte für die dritte Welt, sind seit 30 Jahren eine Institution in Kalkutta und eine beliebte Anlaufstelle für alle, die krank sind und jeden Pfennig herumdrehen müssen. Der Nachteil ist, dass man dort lange anstehen muss. Jeden Tag stellen sich rund 300 Patienten an;viele Patienten kommen von weit her. Man muss schon früh vor Ort sein, am besten um 5 Uhr morgens, um eine gute Chance zu haben überhaupt dranzukommen, denn oft können die German Doctors bis abends nicht alle Patienten sehen, die sich bei ihnen anstellen. Der Vorteil der German Doctors ist, dass alle Untersuchungen für die Patienten und die Behandlung kostenlos sind.
Nach sechs Stunden Wartezeit in der Patientenschlange auf einem staubigen trostlosen Platz inmitten des Slums, ohne Sitzmöglichkeit vor einer alten umfunktionierten Hühnerfarm, kommt Tania in der Ambulanz der German Doctors endlich dran. Sie wird einem deutschen Arzt vorgestellt, der den Dienst in Kalkutta seit zehn Jahren tut. Tania wird gründlich untersucht und ihre Lunge wird geröntgt. Noch am selben Tag steht die Diagnose fest: es ist die Tuberkulose, die jahrhunderte alte Seuchenkrankheit der armen Leute aller Länder weltweit. Der weiße Tod wird diese Seuche auch genannt, so weiß und leblos wie die von einer Tuberkulose zerstörte Lunge im Röntgenbild. Es ist gerade einmal 100 Jahre her, dass die Tuberkulose in Deuschland die Haupttodesursache der Erwachsenen war. Das hat sich in Deutschland mittlerweile gründlich geändert, aber nicht in Indien. Anderthalb Millionen Menschen erkranken in Indien jedes Jahr neu an der Tuberkulose und 350.000 Menschen sterben dort jedes Jahr an dieser eigentlich sehr gut behandelbaren Krankheit. Die Tuberkulose trifft zielgenau die Armen, denn in den Baracken und Hütten, in denen sie leben, kann sich das auslösende Bakterium am besten ausbreiten. Und mit jedem Familienvater, der in den Armenvierteln an Tuberkulose stirbt, sterben auch die sozialen Chancen seiner Frau und der Kinder der Familie.
Die German Doctors haben noch viele andere Kankheiten der armen Leute Kalkuttas zu behandeln als nur Tuberkulose. Aber aus ihrer Erfahrung heraus wissen sie um die wichtigsten Seuchenkrankheiten der Armenviertel und haben längst Strukturen aufgebaut, die speziell für Tuberkulose-Kranke da sind. Dazu gehören zwei eigene Tuberkulose-Krankenhäuser für die schwerkranken Tuberkulose-Patienten. Eins davon, das „Pushpa Children Home“, ist ausschließlich für Kinder mit Tuberkulose da. Daneben unterhalten die German Doctors zahlreiche Stadtteil-Tuberkulose-Zentren in den etwas verstreut liegenden großen Slums der Stadt, in denen diejenigen Tuberkulose-Patienten behandelt werden, die laufen können und lieber ambulant behandelt werden möchten. Dies alles wird aus Spenden aus Deutschland bezahlt. In Kalkutta werden alle Tuberkulose-Patienten kostenlos behandelt.
Tania wird stationär im Kinder-Tuberkulose-Krankenhaus “Pushpa Home“ aufgenommen. Dort stehen dreißig Betten in einem großen Saal, und in jedem liegt ein Kind mit schwer verlaufender oder komplizierter Tuberkulose. Das Krankenhaus ist sehr sauber und die Kinder werden liebevoll und gemäß aktuellem medizinischen Wissen behandelt. Tania geht es bald besser und sie beginnt gewaltige Mengen zu essen und alles nachzuholen, was ihr in den Monaten der Krankheit versagt war. Ihre Behandlung wird sechs Monate dauern. Dann werden die Tuberkulosebakterien ein für alle mal aus ihrem Körper vertrieben sein.
Der deutsche Arzt besucht Tania ab und zu in dem Kinder-Tuberkulose-Krankenhaus und freut sich an ihren Fortschritten. An der sichtlichen Gewichtszunahme und an dem ersten Lächeln des bis dahin todernsten und verschlossenen Kindes. Der Arzt hat unzählige Schicksale von Tuberkulose-Patienten miterlebt, darunter auch die von Patienten, Erwachsenen wie Kindern, die erst zu einem Zeitpunkt zu den German Doctors kamen, an dem ihnen nicht mehr geholfen werden konnte. Ihre Umwege durch die medizinischen Institutionen der Armenviertel und Fehldiagnosen von Heilpraktikern waren allzu häufig Ursache dafür, dass die Krankheit nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war. Der Arzt hat vielen hundert jungen Menschen, denen schon bei ihrer Erstvorstellung bei den German Doctors keine Medikamente mehr ausreichend helfen konnten, ohnmächtig beim Sterben zusehen müssen. Aber Tania wird der weiße Tod nicht kriegen. Tania nicht.
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