von Carolin Koch
Nach ein paar Tagen habe ich das Gefühl, noch nie so einen guten Eindruck in die menschlichen Probleme, Höhen, Tiefen und Abgründe bekommen zu haben. So eine “kleine” Hausarztpraxis ist wie der Spiegel der Gesellschaft. Hier sitzen Menschen nebeneinander im Wartezimmer, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Die Ärzte müssen sehr flexibel sein, auf jeden eingehen können, jeder braucht eine andere Prise des Feingefühls und alle wollen trotzdem nur eins: Dass man ihnen zuhört. Und dass man Ihnen hilft, damit es besser geht.
Ich bin beeindruckt vom Erfahrungswissen der Ärzte und wie sie es vermögen an einem langen Arbeitstag, zwischen überflüssiger Bürokratie und zahlreichen Patienten, zwischen Privatleben und Stress trotzdem ruhig zu bleiben, fachlich korrekt zu reagieren, Mensch zu sein, da zu sein mit dem, was man leisten kann. Ich hab das Gefühl, das Studium deckt nur so einen winzigen Teil von dem ab, was man in dieser Praxis leisten muss. Fächer wie Sozialkompetenz gibt es eben noch nicht und Erfahrung braucht Zeit, sie kann nicht in einem Zusatzkurs erlernt werden. Zeitweise sitze ich ehrfürchtig auf meinen Stuhl, rutsche unsicher von links nach rechts und versuche annähernd zu überschlagen, wie lange es wohl noch brauchen wird, bis ich mit dieser Sicherheit einem Menschen helfen kann. Denn mit meinem teuren Stethoskop höre ich nur einen Bruchteil der Geräusche, die die erfahrenen Ärzte hören und meine Hände sind immer so kalt, dass die Patienten automatische eine Abwehrspannung am Bauch entwickeln.
An einem Mittwochabend merke ich, dass ich nicht nur in fachlicher Hinsicht ein “Küken” bin, sondern sich auch mein Immunsystem erst mal an das „System Hausarztpraxis” anpassen muss. Mit Fieber und Übelkeit liege ich 4 Tage im Bett, die Grippewelle aus Bad Bevensen hat auch vor mir nicht Halt gemacht. Gott sei Dank bin ich in der folgenden Woche wieder fit und kann weiter famulieren. Jetzt erscheint alles schon ein bisschen vertrauter. Das Computersystem wirkt nicht mehr ganz so undurchschaubar, ab und zu fällt mir auch schon ein, welche Medikamente man bei einer bestimmten Erkrankung gibt. Stolz registriere ich, wenn ich bei der Auskultation der Lunge manchmal von alleine ein Giemen und Brummen höre. Ich fühle mich pudelwohl in der Praxis. Die Ärzte erklären mir total viel und das in einer offenen und netten Atmosphäre. Ich habe das Gefühl, dass es Ihnen sehr am Herzen liegt, mich ein Stück meines Weges zu begleiten und mir etwas für mein späteres Leben mitzugeben. Als ich mich nachmittags umziehe, fällt mein Blick auf Jochen: Er trägt tatsächlich eine alte braune Ledertasche und eine Cordhose. Ich grinse in mich hinein, aber gut, er will schließlich zum Hausbesuch, was sollte man auch sonst mitnehmen?
Die zweite Woche verfliegt noch schneller als die erste. Langsam neigt sich meine Zeit dem Ende zu. Irgendwie fühle ich mich, als sei ich schon seit Monaten in der Praxis. Innerhalb kürzester Zeit hat sich mein Bild vom Hausarzt und generell der Medizin ziemlich verändert und zum Guten gedreht. Wenn man Kliniken und Praxen sieht, die einem das Gefühl geben, es gehe nur ums wirtschaftliche System… wenn ich fluchende Kommilitonen und Ärzte höre, die sich über die schlechten Arbeitsbedingungen und unfaire Bezahlungen aufregen… wenn ich selbst zweifle, ob das Studium überhaupt da hinführt, wo ich später sein möchte… dann kann ich mich immer erinnern und sagen: Es gibt sie noch, diese kleine Oase der Menschlichkeit. Ich kann noch Arzt sein mit gutem Gewissen und reinem Herzen. Das Hausarztzentrum Bad Bevensen hat es mir gezeigt und dabei kann von einer kleinen Hausarztpraxis keine Rede sein: Sieben Ärzte, eine Zweigpraxis auf dem Land und jede Menge Möglichkeiten, selbst zur Untersuchung zu schreiten und im kollegialen Gespräch zweifelhafte Fälle zu erörtern.
Drei Wochen später stehe ich mit meinen Kommilitonen wieder in großer Runde vor dem Hörsaal. Wir tauschen Erfahrungen aus.
“Und bei dir Line? Hast du nicht Famulatur gemacht? Ach ja, das war doch irgendwas mit Bad Bär oder so, nicht?”
Ich schmunzle in mich hinein, korrigiere diesmal nicht.
“Schön war‘s!“
Mehr sage ich nicht. Ich kann eh nicht in ein paar Sätzen ausdrücken, wie viel mir die Zeit bedeutet hat und wie wichtig sie mir ist. Diese Famulatur und die Erfahrungen dort werden mich wohl noch lange tragen. Nicht nur durch das Studium. Ich werde mich immer gern zurück erinnern und wer weiß, wo der Weg mal hinführt, ich mein, Cordhosen trage ich auch echt ziemlich gerne…
Mit besten Grüßen,
die “andere Famulantin”
Wir Ärzte vom HausarztZentrum Bad Bevensen danken Carolin Koch für die erfrischende Zeit mit ihr und freuen uns auf ein Wiedersehen. Wer weiß, vielleicht später einmal als Assistenzärztin. Bad Bärensen ist gar nicht so schlecht.
In der nächsten Woche erscheint ein Kommentar von mir zu Carolins Famulatur an dieser Stelle.