Kontraindikationen der Neuraltherapie: Wann ist der therapeutische Einsatz von Lokalanästhetika NICHT sinnvoll?


Auch sehr effektive, sichere und nebenwirkungsarme Therapien können unter bestimmten Bedingungen wirkungslos oder sogar schädlich sein. Mediziner sprechen in diesem Zusammenhang von Kontraindikationen bzw. einer Gegenanzeige. Das DocCheck Flexikon schreibt hierzu: „Eine Kontraindikation ist ein Faktor (z. B. Alter, bestimmte Vorerkrankungen, Verletzungen etc., aber auch Zustände wie z.B. Schwangerschaft), der gegen eine bestimmte diagnostische oder therapeutische Maßnahme (z. B. die Verabreichung eines Medikaments) spricht. Wird eine Kontraindikation ignoriert, kann daraus die Schädigung eines (Organ-) Systems oder die Verschlechterung einer bestehenden Grunderkrankung resultieren.“ Kontraindikationen gibt es auch für den therapeutischen Einsatz von Lokalanästhetika, wie er in der Neuraltherapie praktiziert wird. Der folgende Beitrag soll Patienten helfen, die Kontraindikationen der Neuraltherapie besser zu verstehen. Er basiert im Wesentlichen auf Inhalten des „Handbuchs Neuraltherapie (URBAN & FISCHER).


Abbildung: Das Kapitel 6.4 des „Handbuchs Neuraltherapie“ fasst absolute, relative und „Nicht“-Indikationen der Neuraltherapie für medizinische Fachkreise zusammen.
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Wenn die Neuraltherapie NICHT hilft oder NICHT praktiziert werden sollte:

Das Neuraltherapie.Blog hat in den über drei Jahren seines Bestehens schon eine ganze Reihe wichtiger Themen laienverständlich erschlossen. Prof. Dr. med. Lorenz Fischer, Dozent an der Universität Bern, erläuterte in einem Interview, welche Teile der Neuraltherapie zur konventionellen Medizin gehören und welche zur Komplementärmedizin. Dr. med. J. D. Hahn-Godeffroy, Facharzt für Innere Medizin und Pharmakologie aus Hamburg, informierte über die Arzneimittelsicherheit von Procain, dem Lokalanästhetikum, welches von Neuraltherapeuten am häufigsten injiziert wird. Viele Artikel informieren über Erkrankungen und Indikationen, bei denen die Neuraltherapie eine effektive und gleichzeitig nebenwirkungsarme therapeutische Option darstellt. In diesem Beitrag erfahren Sie nun, wann die Neuraltherapie NICHT EINGESETZT werden sollte, weil sie in bestimmten Situationen nicht hilft, risikobehaftet ist oder im schlimmsten Fall sogar schaden kann.

Wichtig: Die folgenden Angaben dienen der allgemeinen Information von Patienten. Sie sind kein Ersatz für die Diagnose und Therapie durch eine qualifizierte Ärztin bzw. einen qualifizierten Arzt.
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1. Absolute Kontraindikationen

Eine absolute Kontraindikation verbietet eine therapeutische oder diagnostische Maßnahme vollständig (ohne Ausnahme), weil ihre negativen Auswirkungen auf den Patienten gravierend sind oder gravierend sein können.

1.1 Das Herz betreffende (kardiale) Erkrankungen: Bradykardien (nicht abgeklärt), AV-Block III°, nicht abgeklärte Rhytmusstörungen bzw. nicht funktionell bedingte Herzrhytmusstörungen. – Wichtig: Bei abgeklärten funktionellen Herzrhythmusstörungen ist die Neuraltherapie wiederum sinnvoll.

1.2 Akute chirurgische Indikationen: Um dringend notwendige chirurgische Maßnahmen nicht zu verzögern, verbietet sich die Anwendung der Neuraltherapie beispielsweise bei akutem Abdomen, Aortenruptur, schwersten akuten Kopfschmerzen, Präeklampsie, Eklampsie und änderen lebensgefährlichen Zuständen.

1.3 Spritzenangst: Haben Patienten eine ausgeprägte Angst vor Spritzen und Injektionen – evtl. sogar eine Spritzenphobie – so sollte unbedingt nach einer Alternative zur Neuraltherapie gesucht werden. Eine „Methode gegen Widerstand“ ist nicht erfolgversprechend und belastet Patienten und Ärzte gleichermaßen.
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2. Relative Kontraindikationen

Eine relative Kontraindikation erlaubt eine therapeutische oder diagnostische Maßnahme nur dann, wenn der „erwartete Nutzen den zu befürchtenden Schaden“ (→ DocCheck Flexikon) sehr wahrscheinlich aufwiegt. Nutzen und Risiken müssen sorgfältig abgewogen werden. Bei den folgenden Zuständen stellt die Neuraltherapie nicht die Therapie der ersten Wahl dar:

2.1 Blutgerinnungsstörung: Bei iatrogener, angeborener oder erworbener Blutgerinnungsstörung sollten schwierige und tiefe Injektionen unbedingt unterlassen werden (iatrogen: durch ärztliche Behandlung bedingt, hier also z. B. die Gabe von blutverdünnenden Mitteln). Wichtig: Auch freiverkäufliche Schmerzmittel wie Acetysalicylsäure, Diclofenac und Ibuprofen haben eine gerinnungshemmende Teilwirkung, die eine Woche anhalten und ein erhöhtes Hämatomrisiko bedeuten kann.

2.2 Cholinesterase-Mangel und Myasthenia gravis.: Ob die Neuraltherapie zum Einsatz kommen darf, hängt vom Ausmaß der Enzymstörung ab. Bei Cholinesterase-Mangel sollte geprüft werden, ob ein Wechsel von Procain hin zu Lidocain nützlich ist. Bei Myasthenia wird Procain relativ langsam abgebaut und verstoffwechselt, was im ungünstigsten Fall eine toxische (giftige) Wirkung auslösen kann. Auch hier sollte geprüft werden, ob ein Wechsel auf ein anderes Lokalanästhetikum möglich ist.

2.3 Infektionserkrankungen: Bei generalisierten Infektionen muss zunächst die Ursache gefunden werden. Solange die Ursache nicht ermittelt ist, sollte von der Neuraltherapie abgesehen werden. – Wichtige Ausnahme: Speziell bei Infektionen der Haut und des Unterhautgewebes kann die Neuraltherapie therapeutisch sinnvoll und wirksam sein, weil Lokalanästhetika eine entzündungshemmende und durchblutungsfördernde Wirkung besitzen und beispielsweise Procain bei richtiger Dosierung schnell und schonend vom Körper abgebaut wird.

2.4 Schwangerschaft: Von keinem der kurzwirksamen Lokalanästhetika Procain und Lidocain ist ein teratogener Effekt bekannt. Aus juristischen Gründen sollte von einer Neuraltherapie jedoch in den ersten 12 Wochen einer Schwangerschaft abgesehen werden. Von Injektionen direkt an den Plexus uterovaginalis ist ebenfalls abzuraten.

2.5 Psychosen: Psychische Erkrankungen sind mittels Neuraltherapie nicht heilbar. In bestimmten Fällen kann es jedoch nach einer Ganglien- oder Störfeldtherapie (eine Sonderform der Neuraltherapie) zu erheblichen Verbesserungen kommen, für die es derzeit keine gesicherte Erklärung gibt. Leichte psychische Störungen wie depressive Verstimmungen, Erschöpfungszustände und Konzentrationsstörungen bessern sich oftmals deutlich unter neuraltherapeutischer Behandlung.

2.6 Sekundärer Krankheitsgewinn: Patienten, die von ihrer Erkrankung in irgendeiner Weise profitieren – beispielsweise durch vermehrte Zuwendung oder Arbeitsunfähigkeit – sollten frühzeitig auf diese möglicherweise für sie schädliche Situation hingewiesen werden. Liegt ein sekundärer Krankheitsgewinn vor, so sollte eine Neuraltherapie weder begonnen noch fortgesetzt werden..

2.7 „Koryphäen-Killer-Syndrom“ (KKS): Dieses KKS abgekürzte und in den Bereich der Neurosen gehörende Syndrom liegt dann vor, wenn Patienten mit psychosomatisch bedingten Beschwerden hartnäckig medizinische Untersuchungen einfordern, diese jedoch immer wieder zu unauffälligen Befunden führen. Es wird nichts gefunden. Liegt ein KKS vor, so sollte es offen angesprochen werden. Ist dies nicht möglich oder nicht ratsam, so ist eine Zuweisung zu einem psychotherapeutisch erfahrenen Arzt zu empfehlen.
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3. „Nicht-Indikationen“

„Nicht-Indikationen“ sind Krankheitsbilder oder Zustände, die als solche mittels Neuraltherapie nicht geheilt werden können. Eine Behandlung schadet nicht per se, sondern allenfalls durch die verzögerte Einleitung der richtigen Therapie.

3.1 Mangelkrankheiten: Krankheiten, die z. B. durch einen Mangel an Vitaminen oder Mineralstoffen entstehen, können mittels Neuraltherapie nicht positiv beeinflusst werden. Beispiele: Hormon-, Vitamin- oder Spurenelementemangel.

3.2 Intoxikationen: Krankheitserscheinungen, die durch Gifte wie z. B. Schwermetalle, Pestizide oder überdosierte Medikamente ausgelöst werden, können mittels Neuraltherapie ebenfalls nicht therapiert werden.

3.3 Chronische Krankheiten im Endzustand: Viele chronische Erkrankungen wie z. B. Rheumatoide Arthritis lassen sich mittels Neuraltherapie sehr gut therapieren und günstig beeinflussen (siehe: Neuraltherapie bei Arthrose). Ist der Endzustand einer chronischen Erkrankung erreicht – z. B. bei arthritischer Fehlstellung von Gelenken – so lässt sich dieser auch mit Neuraltherapie nicht mehr beeinflussen.

3.4 Erbkrankheiten: Vererbte Leiden lassen sich neuraltherapeutisch nicht therapieren. Behandlungsversuche mittels Neuraltherapie sollten unterbleiben, um keine unerfüllbaren Erwartungen aufzubauen.

3.5 Maligne Tumore: Bösartige Tumore lassen sich neuraltherapeutisch weder positiv noch negativ beeinflussen. Es gibt allerdings in diesem Bereich sehr vielversprechende Ergebnisse aus der Grundlagenforschung, die einen günstigen therapeutischen Begleiteffekt von Lokalanästhetika in Zukunft erhoffen lassen. Die Neuraltherapie kann jedoch auch heute schon im Rahmen einer konventionellen Krebstherapie sehr effektiv zur Schmerztherapie und zur Behebung oder Linderung von Befindlichkeitsstörungen eingesetzt werden.

3.6 Regulationsblockade: Eine sogenannte Regulationsblockade liegt immer dann vor, wenn der Organismus z. B. als Folge einer Chemotherapie, einer chronischen Entzündung, eines Tumors etc. nicht mehr fähig ist, auf einen kleinen Reiz angemessen zu reagieren. Siehe: Wikipedia-Artikel „Selbstregulation – Biologie“. Regulationsblockaden sind schwer zu diagnostizieren, äußern sich jedoch z. B. in chronischer Müdigkeit und als fehlendes Ansprechen auf komplementärmedizinische Maßnahmen wie die Neuraltherapie.
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Stärken der Neuraltherapie

Die Kliniken Essen-Mitte schreiben auf ihrer Homepage: „Bei guter Kenntnis der Anatomie, der Injektionstechniken und bei Einhaltung der Höchstdosen handelt es sich um eine äußerst risikoarme Therapieform.“ Dieser Aussage kann ich als Arzt und Fachbuchautor, der sich mit der Neuraltherapie seit vielen Jahren wissenschaftlich-forschend und aktiv praktizierend auseinandersetzt, nur zustimmen. Dort, wo die Neuraltherapie zum Einsatz kommen kann und darf – und das ist bei erstaunlich vielen Krankheitsbildern der Fall – ist sie nicht selten eine sehr effektive und schonende Alternative zu konventionellen Behandlungsmethoden. Wer z. B. konventionelle Schmerzmittel über einen längeren Zeitraum einnimmt, der kann seinen Körper schwer schädigen, ohne dabei die Ursache seiner Schmerzen zu behandeln. Eine neuraltherapeutische Schmerztherapie mit Procain ist hingegen in den meisten Fällen schonend und gut verträglich, unter anderem, weil das Mittel in kürzester Zeit vollständig abgebaut und verstoffwechselt wird. Bei vielen Schmerz- und Krankheitsbildern kann sogar ein Regulations- und Heilungsprozess angestoßen werden, der auch dann noch anhält, wenn das Lokalanästhetikum schon längst nicht mehr im Körper nachweisbar ist.

Aus diesen Gründen ist die Neuraltherapie bei erfahrenen Therapeuten so beliebt. In einer Studie unserer Universität gaben die befragten niedergelassenen Ärzte an, die Neuraltherapie von den komplementären Therapien am häufigsten einzusetzen – noch vor Akupunktur und Chirotherapie (Joos S. et al. 2009). Auch Prof. Dr. med. Lorenz Fischer fasste seine Erfahrungen als Allgemeinmediziner, der sich auf die Schmerz- und Neuraltherapie spezialisiert hat, in einem Interview wie folgend zusammen: „In die neuraltherapeutische Praxis kommen viele Patientinnen und Patienten, die als therapieresistent gelten, weil sie auf eine konventionell-medizinische Therapie nicht mehr ansprechen. Kann ich diesen Menschen über den Weg der Neuraltherapie helfen, manche haben eine langjährige Odyssee des Leidens hinter sich, dann ist das ein sehr motivierendes Erlebnis.“
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Adresse des Autors:
stefan.weinschenk@med.uni-heidelberg.de

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Link zum Thema:

Weinschenk S., Neural therapy – A review of the therapeutic use of local anesthetics. Acupunct Relat Ther (2012), http://dx.doi.org/10.1016/j.arthe.2012.12.004
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