Ein Bericht von Christoph Niederberger über seinen Einsatz in Dhaka, Bangladesch
Diese erste Woche, die ich mit Ärzte für die Dritte Welt in Dhaka erlebte stand für die Bevölkerung hier ganz im Zeichen des überaus tragischen Einsturzes des neunstöckigen Kleiderfabrikgebäudes 30 km außerhalb von Dhaka, mit bisher über 550 geborgenen Toten und noch sehr vielen vermissten Personen. Dieser Schock war in diesen Tagen auch in der Sprechstunde in den Armenvierteln und Slums von Dhaka, welche medizinisch von den German Doctors versorgt werden, spürbar. Viele unserer Patienten und Patientinnen arbeiten selber in der Textilindustrie, der bei weitem bedeutendsten Exportbranche des Landes. Die schlechten Arbeitsbedingungen, meist 12 Stunden pro Tag bei miserabler Entlohnung mit immer denselben monotonen Tätigkeiten, führen häufig zu Schmerzen am Bewegungsapparat und stellen für etliche Patienten und Patientinnen auch eine psychische Belastung mit entsprechenden Beschwerden dar. In diesen Situationen sinnvolle Hilfe bieten zu wollen, lässt einen rasch die Grenzen des hier medizinisch Machbaren erfahren. Empfehlung für Arbeitsplatzwechsel, Verbesserung der Work-Life-Balance oder Weiterweisung zu einer psychosomatischen Betreuung funktionieren hier nicht. Wir können ihnen lediglich ein paar Schmerztabletten, die Empfehlung für eine gelegentliche Massage durch ein Familienmitglied und den Ratschlag, sich während der Arbeit immer mal wieder nur für ein paar Sekunden von der Nähmaschine zu erheben und den Rücken durchzubewegen, geben. Wenn dies aus unserer Sicht auch nicht viel ist und einem die eigene Hilflosigkeit immer wieder spüren lässt, so ist es dennoch erstaunlich, wie sehr es gerade diese Patientinnen und Patienten ungemein schätzen, dass sich überhaupt jemand ihre Beschwerden, Sorgen und Nöte anhört und zumindest versucht, ihre Misere etwas zu lindern. Die Dankbarkeit und Herzlichkeit unserer Patientinnen und Patienten uns gegenüber ist unbeschreiblich und lässt uns immer wieder spüren, dass man hier etwas Sinnvolles macht.
Die durch die German Doctors in Dhaka medizinisch betreuten Slumbewohner, die unter unvorstellbaren Bedingungen häufig entlang der Bahngeleise hausen, kämpfen tagtäglich darum, einigermaßen genügend Nahrung für sich und ihre Kinder auf den Tisch zu bringen (falsch! Einen Tisch haben alle diese Leute nicht; in ihren Slumhütten finden sich keine Möbel-stücke).
Immer wieder mangelt es ihnen an Geld für die Nahrungsbeschaffung, so wie der 17-jährigen Rima, die mit ihrem Mann, einem Teeverkäufer und ihren kranken Schwiegereltern in den Straßen von Dhaka lebt. Sie gebar im November 2012 ihren ersten Sohn Raju, konnte ihn aber aus gesundheitlichen Gründen nicht stillen. Da das minimale Einkommen des Mannes nie und nimmer dazu ausreichte, genügend Säuglingsmilch zu kaufen, versuchte sie mit stark verdünnter normaler Milch und Reiswasser den Jungen über die Runden zu bringen. Anfang März wurde der inzwischen fünf Monate alte Raju krank. Er begann zu husten und hatte Fieber, weshalb sie sich erstmals in der Slum-Ambulanz der Ärzte für die Dritte Welt meldete. Die erhebliche Mangelernährung des 3,4 Kilogramm leichten Jungen wurde augenblicklich erkannt und Rima wurde mit ihrem Sohn in die „Feeding-Station“ der German Doctors aufgenommen. Ganz erfreulich legte er unter adäquater Ernährung innerhalb von 10 Tagen um ein Kilogramm auf 4,4 Kilogramm, zu. Die Mutter wurde während dieser Zeit genau instruiert, wie sie ihren Jungen ernähren sollte und sie war zuversichtlich, dass sie es nun schaffen sollte. Allein, sie scheiterte rasch wieder an der Realität des Alltags: das äußerst spärliche Einkommen des Mannes reichte nach wie vor nicht, um die vierköpfige Familie und das Kleinkind zu ernähren (Die Säuglingsmilch kostet pro Woche 1100 Taka = 11 €, dies ist mehr als das wöchentliche Einkommen der Familie!). Am 28. April meldete sich Rima wieder in unserer Ambulanz, da es ihrem Sohn nicht gut gehe. Sie realisierte wohl selber, dass Raju eigentlich nicht krank war, sondern sie ihn einfach nicht genügend ernähren konnte und er deswegen wieder auf 3,7 Kilogramm abgenommen hatte.
Raju war an diesem 28. April einer meiner ersten Patienten und ließ mich mit aller Wucht erkennen, dass es in diesem Projekt um mehr geht als nur um eine ärztliche Sprechstunde für Benachteiligte, die sonst kaum einen Zugang zu einer basismedizinischen Versorgung haben. Es geht vor allem auch darum, zu versuchen, diesen Benachteiligten, um die sich sonst eigentlich gar niemand kümmert, beizustehen und mit ihnen nach Lösungen in ihrem tagtäglichen Kampf ums Überleben zu suchen.
Raju wurde erneut in die „Feeding-Station“ aufgenommen und er gedeiht prächtig: nach sechs Tagen adäquater Ernährung bringt er 4,4 Kilogramm auf die Waage. Jetzt folgt aber der schwierigere Teil: einen Weg zu finden, wie er auch zuhause eine geeignete und ausreichende Ernährung erhalten kann.
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