Ein Bericht von Thomas Gehrig über seinen Einsatz in Nairobi, Kenia
Nach Tagen der Arbeit in unserem Projekt war ich gestern und heute im Mathare Valley Slum unterwegs, um unserer „Social-Nurse“ Rose zu helfen und ihr bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Trotz medizinisch geschultem Blick, überwiegt in der Nachempfindung und im Nachdenken immer wieder das Staunen, das Entsetzen und das Fragen über Gründe der sozialen Kluft, die sich hier vor meinen Augen auftut.
Wir starten gegen Mittag. Die Gassen, Durchgänge, Winkel und Eingänge sind für einen Europäer zumindest beim ersten und zweiten Hinschauen nicht zu erfassen. Überall Treiben, Kleinsthandel, Kochen, Waschen, Kinder, immer wieder Kinder auf der Straße. Rose sagt, bei Nacht ist es hier für alle, aber besonders für Weiße viel zu gefährlich. Die Kinder lachen, spielen mit Blechdosen. In den offenen trüben Kanälen lassen sie Schiffe mit und gegen den Strom schwimmen. Überall Unrat, Schmutz, die Luft riecht süßlich-faulig, die Kinder fassen mich an, erstaunt Haut mit weißer Farbe zu fühlen. Männer sitzen beim Hütchenspiel neben Teigfladen, die in Öl ausbacken, hin und wieder auch trockenes Gemüse oder Trockenfisch (aus dem Victoriasee, wie auch immer hier hergekommen und Fett triefend).
Die Sonne sticht. Rose wirkt mit einer Größe von 160 cm und ihrem Gewicht wie die Mamma von Mathare. Sie hält an allen Ecken, hier ein Schwätzchen, da eins auf Suaheli. Sie ist beliebt. Wir treten ein in eine Hütte. Rose hat zuvor angeklopft. Im Inneren ist es dunkel, feucht, stickig, die Blechwände halten den Regen, den wir hier zurzeit Tag und Nacht haben (große Regenzeit) nicht stand. Der Raum, 3 m auf 3 m, enthält einen kleinen Tisch und ein paar Stühle. Alles so, dass es bei uns nicht mal den Spermüll beeindrucken könnte. Hier lebt Mathilde, 28 Jahre jung, mit ihrem Mann Augusto. Sie haben vier Kinder. Im Raum gibt es ein Bett mit fauliger Matratze. Alle Kinder schlafen auf dem Boden. Hier decken ein paar Linoleumfetzen nebst Pappe den nassen Untergrund. Das Valley wird täglich durch den Regen geflutet. Der Regen prasselt auf die Blechdächer. Regnet es nachts, bleiben alle wach, denn man hört sonst die Einbrecher nicht. Das Trommeln des Regens übertönt alles.
Mutter Mathilde und Vater Augusto sind HIV-positiv. Sie sind bei uns im Programm eingeschrieben und bekommen Anti-Retrovirale Medikation. Doch die Einnahme der Medikamente muss kontrolliert werden. Drei der Kinder sind HIV-negativ; die älteste, 12-jährige Tochter ist HIV-positiv. Sie kommt in das Alter, in dem hier Paare entstehen. Sie wird von Rose in aller Ruhe aufgeklärt, nur mit Kondom Geschlechtsverkehr zu haben. Wir nehmen ein paar notwendige Blutproben zur Überwachung der HIV-Therapie und verabschieden uns.
Mathilde weiß nicht, was sie kochen soll. Sie hat kein Geld, Augusto verdient nichts. Zwei ihrer Kinder sind im „Feeding-Programm“ der German Doctors und erhalten von uns Plumpinut – ein kalorienreicher Mix mit Vitaminen.
Zehn solcher Besuche an einem Nachmittag, zehn verschiedene Schicksale, unterschiedliche Familienkonstellationen (bis hin zu AIDS-Vollwaisen). Es lässt mich nicht los, ich schlafe die Nacht schlecht. Es ist heiß und feucht. Ich bin froh als noch vor Sonnenaufgang der Wecker klingelt. Warum frage ich mich, warum ist die Welt so ungerecht verteilt? Eine Antwort finde ich nicht. Es ist wohl wie es ist. Ein Morgenlauf im Sprühregen erfrischt. Ein neuer Tag wartet.
Einsortiert unter:Allgemein Tagged: AIDS, Kenia, Lebensbedingungen, Mathare Slum Valley, Unterernährung