Eine HIV-Therapie kann die Virusmenge im Körper so weit verringern, dass HIV im Blut nicht mehr nachweisbar ist: Eine Ansteckung über Sex ist dann extrem unwahrscheinlich. Kann das Wissen darüber zur Entstigmatisierung von Menschen mit HIV beitragen? Dieser Frage ging Jochen Drewes in seiner Dissertation nach. Christina Laußmann und Dirk Hetzel sprachen mit dem Wissenschaftler über seine Ergebnisse.
Herr Drewes, warum haben Sie für Ihre Dissertation dieses Thema gewählt?
Ich wollte die Auswirkung der antiretroviralen Therapie auf die Stigmatisierung von Menschen mit HIV untersuchen. Dabei war mein Ausgangspunkt die oft gehörte Behauptung, dass die verminderte Infektiosität antiretroviral behandelter Menschen mit HIV zu einer Entstigmatisierung führen kann. Diese Annahme ist tatsächlich sehr plausibel, aber empirisch wurde dieser Zusammenhang bisher noch nicht untersucht. Um diese Hypothese zu überprüfen, habe ich ein Online-Experiment durchgeführt.
Wie sah dieses Experiment aus?
Ich habe über ein Online-Panel ungefähr 750 heterosexuelle Frauen und Männer rekrutiert. Diese wurden im Verlauf des Experiments zufällig zwei Hauptgruppen zugeordnet: Die Mitglieder der einen wurden durch einen kurzen Text über den Zusammenhang von HIV-Medikamenten, Viruslast und Infektiosität informiert, die anderen Teilnehmer nicht. Daraufhin wurden alle Teilnehmer mit einer kurzen Beschreibung einer Person, die mit HIV lebt, konfrontiert. Diese Person hatte für die eine Hälfte der Teilnehmer eine niedrige und für die andere Hälfte der Teilnehmer eine hohe Viruslast. Die Teilnehmer sollten dann angeben, zu welchen sozialen, körperlichen oder intimen/sexuellen Kontakten sie mit dieser hypothetischen Person bereit wären.
Warum haben Sie als Beispiel eine heterosexuelle Person gewählt?
Ich wollte einen psychologischen Mechanismus untersuchen, und da sollten Tabus und Schuldzuweisungen erst mal eine möglichst geringe Rolle spielen. Deswegen wurde die Person im Fallbeispiel nicht nur als heterosexuell beschrieben, sondern auch als jemand, der sich innerhalb einer festen Beziehung infiziert hatte.
Und was haben Sie herausgefunden?
Die Höhe der Viruslast wirkt sich tatsächlich auf die Stigmatisierung aus, und zwar wie vermutet: Wenn ich eine niedrige Viruslast habe und die Menschen wissen, dass das mit einer entsprechend niedrigen Infektiosität verbunden ist, verringert sich auch die Stigmatisierung.
Erstreckt sich dieser Effekt über alle erfassten Interaktionen?
Bei den Befragten, die informiert waren, war die intime/sexuelle „Distanzierungsbereitschaft“ gegenüber der Person mit niedriger Viruslast geringer als gegenüber der Person mit hoher Viruslast. In der Gruppe, die nicht informiert wurde, gab es da keinen Unterschied: Diese Befragten wussten ja nicht, welchen Einfluss die Viruslast auf die Infektiosität hat. Allerdings zeigte sich dieser Effekt nicht bei der Distanzierungsbereitschaft in alltäglichen sozialen Situationen.
Was meinen Sie mit „intimer oder sexueller Distanzierung“?
Hier ging es um Handlungen wie einen Kuss auf den Mund, Petting, Geschlechtsverkehr mit Kondom und eine feste Partnerschaft, also Interaktionen, bei denen es zu Schleimhautkontakten kommen kann. Die Distanzierungsbereitschaft in intimen und sexuellen Interaktionen ist in meiner Stichprobe sehr hoch. Selbst zu einem „Kuss auf den Mund“ sind nur etwas mehr als die Hälfte der Teilnehmer bereit. Die soziale Distanzierungsbereitschaft war dafür unter den Teilnehmern sehr gering ausgeprägt. Das waren Aktivitäten ohne Berührungen oder bei denen die Schleimhäute nicht in Kontakt kommen können.
Auch im Forschungsprojekt „positive stimmen“ gab es einen sehr hohen Anteil HIV-Positiver, die sexuelle Zurückweisung erlebt haben. Wie erklären Sie den großen Unterschied zwischen sozialer und sexueller Stigmatisierung in Ihren Daten?
Ich interpretiere das so, dass bei sozialen Kontakten ohnehin kein Risiko einer Infektion empfunden wird. Das entsprechende Wissen ist in der Bevölkerung angekommen und die Ablehnung sozialer Kontakte wird als stigmatisierend empfunden. Menschen wollen in der Regel eigentlich nicht stigmatisieren – und sie wollen sich auch als jemanden darstellen, der nicht stigmatisiert. Die körperlichen, sexuellen Distanzierungen nehmen sie dagegen nicht als Stigmatisierung wahr, weil hier weiterhin Infektionsängste bestehen. Diese Reaktion halten sie für eine rationale Strategie der Gefahrenkontrolle, und deswegen sehen sie auch kein Problem darin, diese Art der Stigmatisierung zu äußern. Dass die Angst vor einem Kuss auf den Mund im Grunde ebenso irrational ist wie eine Verweigerung des Händeschüttelns, hat sich in den Köpfen der Menschen offensichtlich noch nicht verankert.
Fällt die Stigmatisierung von Nichttherapierten oder von Menschen mit hoher Viruslast stärker aus, wenn der Zusammenhang zwischen Viruslast und Übertragungswahrscheinlichkeit bekannt ist?
Die Ergebnisse sind klar: Die Aufklärung und Kommunikation über die verminderte Infektiosität medikamentös behandelter HIV-Positiver führt nicht dazu, dass Menschen mit hoher Viruslast verstärkt stigmatisiert werden. Allerdings gab es in meiner Untersuchung eine Ausnahme: Die informierte Gruppe bewertete HIV-Positive mit hoher Viruslast als stärker verantwortungslos als die andere Gruppe.
Weil sie sich nicht therapieren lassen?
Ja, genau das ist meine Vermutung, das müsste in zukünftigen Studien weiter untersucht werden.
Da sind wir bei der nächsten viel diskutierten Frage: ob mit dem Erfolg der Therapie nicht so etwas wie Therapiedruck entsteht.
Diese Frage habe ich in meiner Studie nicht berücksichtigt. Auch das wäre eine Aufgabe für weitere Studien. Diese müssten auch untersuchen, ob es Möglichkeiten gibt, diesem eventuellen Effekt entgegenzuwirken – indem man zum Beispiel die Therapiefreiheit betont oder mit guten Argumenten zeigt, dass es eben nicht verantwortungslos ist, keine Therapie zu machen.
Konnten Sie auch zeigen, ob die Teilnehmer schon vor Ihrer Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Viruslast und Infektiosität Bescheid wussten?
Ja, denn ich fragte die Teilnehmer auch, ob sie schon mal davon gehört haben, das war ein verhältnismäßig geringer Teil. Im Vergleich zwischen denen mit und denen ohne Vorwissen zeigt sich ein weiterer wichtiger Effekt. Wenn man sich nur die Gruppe mit Vorwissen anschaut, dann kann man sehen, dass der Unterschied im Stigmatisierungsverhalten hier gegenüber HIV-Positiven mit hoher und mit niedriger Viruslast viel größer ist als bei denen, für die diese Information völlig neu war.
Woran liegt das?
Einstellungen lassen sich nur sehr schwer ändern, dazu braucht es wahrscheinlich mehr als einen kurzen Informationstext, wie er in der Studie eingesetzt wurde. Meine Ergebnisse lassen aber auch eine wichtige Schlussfolgerung zu: je mehr die Menschen über den Zusammenhang erfahren, umso stärker wird die entstigmatisierende Wirkung ausfallen. Was ebenso interessant ist: Am Ende des Fragebogens wurde gefragt, ob die Viruslast bei der Beantwortung eine Rolle gespielt habe. Und hier schrieben viele Sätze wie: „HIV ist HIV. Da macht es keinen Unterschied, ob die Viruslast hoch oder niedrig ist“ oder „Das Restrisiko ist mir zu hoch“. Das zeigt, dass im Grunde von vielen noch bezweifelt wurde, dass jemand mit niedriger Viruslast tatsächlich weniger ansteckend ist.
Diese Zweifel gibt es ja durchaus auch in der Schwulenszene.
Genau, das liegt daran, dass auch in der Schwulenszene das Wissen um die stark verminderte Infektiosität noch nicht angekommen ist. Ich glaube aber auch, dass solche Antworten stark emotional motiviert sind. Mit HIV ist eben immer noch das Dramatische und Außergewöhnliche der Aids-Zeit verbunden. Dies herrscht auch in der Berichterstattung weiter vor. Könnte man HIV entdramatisieren, ließe sich auch diese emotionale Komponente reduzieren.
Wie könnte es denn gelingen, HIV zu entdramatisieren?
Dieser Prozess hat ja schon begonnen. HIV ist heute eine behandelbare, chronische Erkrankung. Die Lebenserwartung HIV-Positiver ist in etwa so wie bei Diabetikern, wenn man heute mit 30 in einem westeuropäischen Land mit gutem Gesundheitssystem diagnostiziert wird. Dieses Wissen muss stärker bei den Menschen ankommen. Man darf auch in der Prävention nicht mit Angst arbeiten, das ist kontraproduktiv. Vielmehr muss kommuniziert werden, dass behandelte HIV-Positive kaum mehr infektiös sind, dass HIV durch den medizinischen Fortschritt seinen alten Schrecken weitgehend verloren hat. Und das hat das Experiment ja gezeigt: Je besser das Wissen darüber ist, desto mehr sinkt die Stigmatisierungsbereitschaft.
Ihr Fallbeispiel war ja eine Person, die diese Tabuthemen nicht berührt. Die Ergebnisse der Untersuchung wären wahrscheinlich anders ausgefallen, wäre diese Person schwul, ein Drogengebraucher oder eine Sexarbeiterin gewesen.
Hier kann vermutlich auch die verminderte Infektiosität nichts bewirken, denn hier spielen Fragen von Verantwortung und Schuld, von Homophobie usw. mit hinein. Mir ging es erst mal darum, den psychologischen Mechanismus zu untersuchen. Und da konnte ich zeigen, dass bei der Stigmatisierung die Viruslast eine Rolle spielt. Inwiefern man diese Ergebnisse verallgemeinern kann und welche Faktoren dabei zusätzlich eine Rolle spielen, muss in weiteren Studien untersucht werden.
Jochen Drewes ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Public Health der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die psychosozialen Aspekte von HIV und Aids, Prävention und sexuelle Gesundheit.