Am 30.Mai starb der Berliner Schriftsteller Mario Wirz. In den 90ern wurde er bekannt, weil er aus der Ich-Perspektive über das Leben mit HIV und Aids schrieb. Sein Leben und Werk machen Mut, sich der eigenen Sterblichkeit und Schwäche zu stellen, weil nur daraus wahre Stärke erwachsen kann. Holger Wicht hat Mario Wirz lange gekannt und häufig über ihn geschrieben. Eine freundschaftliche Würdigung
Aber natürlich schreibe ich deinen Nachruf, lieber Mario, ist doch klar.
Du hast bei unserem letzten Treffen nichts dazu gesagt, aber ich weiß, du möchtest das so. „Du wirst dem verblichenen Dichter nicht abschlagen, ihm die letzte Ehre zu erweisen“, raunst du mit deiner sonoren Stimme und wirfst mir einen kokett durchdringenden Blick zu.
Am Ende fehlt doch noch etwas.
Und wenn ich nein sagen würde, mal wieder aus Zeitgründen womöglich? Dann würdest du dich einmal mehr dem Lauf des Lebens fügen. Ohne zu murren, ohne Strenge, ohne Vorwurf. Der wundersame Wirz, so würdest du in etwa formulieren, müsse akzeptieren, dass die Welt sich nicht immer nach seinen kühnen Träumen ordne.
In einer Mail oder einem Brief würdest du ohne Zweifel noch hinzufügen: „Seufz.“
Jetzt, wo ich ja gesagt habe, schnurrst du wie eine beglückte Raubkatze: „Rrrrrrr …“
Ich weiß, du wünschst dir ganz unbescheiden eine Hymne. Im Abspann sollte auf deinen neuen Gedichtband „Jetzt ist ein ganzes Leben“ hingewiesen werden, dessen Erscheinen du nun nicht mehr erleben wirst. Deine Gedichte waren dir immer am wichtigsten. Sie waren für dich Ausdruck und Kraftquelle zugleich.
Du wirst mir trotzdem erlauben, eingangs festzuhalten: Berühmt geworden bist du mit deiner Prosa. Du warst der erste in Deutschland, der offen über sein Leben mit HIV und Aids geschrieben hat, und was du schriebst, war brillant.
Für Antworten auf die tiefsten Fragen des Lebens darf man auch mal 30 Jahre brauchen.
Deine Angst und deine Verzweiflung brachtest du in deiner ganz eigenen kraftvollen Sprache zum Ausdruck, deren Bilderreichtum und Melodien den Leser zutiefst berühren. Nicht alle haben das damals goutiert: Die schwule Zeitschrift magnus erblickte in deinem Erstling „das vollkommene schwule Lamento, ein Dokument schwulen Selbsthasses“. Was für ein Irrtum!
Mein lieber Mario, du bist sicher einverstanden, dass hier keine Aufzählung deiner Werke und Preise folgt, die bereits bei Wikipedia nachzulesen sind. Dass du vom Dichter Ernst Jandl gelobt wurdest, sei erwähnt. Und dass du in der Welt als „einer der begabtesten zeitgenössischen Literaten deutscher Sprache“ gefeiert wurdest, will ich nicht verschweigen. Ich weiß, es tut dir gut. Applaus ist ein Lebenselixier des Künstlers, Ruhm und Ehre – wie jede Form der Anerkennung – salben die Wunden der Verletzten, wenn sie auch nicht heilen können.
Ich schreibe diesen Nachruf aber vor allem, weil am Ende doch noch etwas fehlt: Ich habe dir nie gesagt, was du mir bedeutest. Und ganz sicher nicht nur mir. Warum begreifen wir, dass es irgendwann zu spät ist, immer erst, wenn es wirklich zu spät ist? Warum selbst in deinem Fall? Hast du nicht immer darüber geschrieben, dass die Zeit drängt? Dass alles, was vom Leben zu leben ist, jetzt erlebt werden will? So will ich dir nun nachrufen, was noch zu sagen ist.
Als ich 1992 nach Berlin kam, war ich ein verunsicherter Junge von 21 Jahren. Ich suchte die Erfüllung, die Liebe des Lebens, Sexualität. Mein Leben begann gerade erst richtig, und ich war voller Hoffnung und voller Angst zugleich. AIDS war noch tödlich; vor dem Sex, beim Sex, nach dem Sex waren immer schlimmste Befürchtungen im Spiel. Als junger schwuler Mann kurz nach einem späten Coming-out war ich schwer verletzt, ohne dass ich es so gesagt hätte. Im Umgang mit Alkohol war ich nicht souverän und ich rauchte wie ein Schlot.
Atemloser Bericht aus der tristen “Zimmerschachtel” in Berlin-Neukölln
Im gleichen Jahr erschien dein Buch „Es ist spät ich kann nicht atmen – Ein nächtlicher Bericht“. Darin schriebst du über dein verzweifeltes Leben in deiner winzigen, dunklen und unaufgeräumten Einzimmerwohnung in Neukölln (damals gänzlich unangesagt!). Du nanntest sie „Knast“ und „meine Zelle“. Ich selbst saß in ähnlich unaufgeräumten Buden, erst in Friedrichshain, dann in Prenzlauer Berg und schrieb meiner ersten Texte.
Dein atemloser Bericht handelte von deiner Angst, deinen Verletzungen als schwuler Mann und als uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter in der hessischen Provinz. Du erzähltest ohne Beschönigung wie du dir die Abende mit deinen Flaschenfreunden erträglicher machtest und wie dein Aschenbecher überquoll, weil du ihn in deiner Lethargie versäumtest, ihn zu leeren. Du schriebst über Sehnsucht und Enttäuschung. Du hättest nicht persönlicher schreiben können, und doch schriebst du auch über mich und alle anderen Verletzten und Verängstigten der Welt.
Eine Pointe über die Endstation Neukölln konnte den Tod in die Flucht schlagen.
Ich saß in einer ähnlich unaufgeräumten Bude und wollte dich gerne kennenlernen. Als junger schwuler Journalist mit einem Faible für Literatur hatte ich bald Gelegenheit dazu.
In bierseligen Runden nach deinen Lesungen warst du gerne der große Gastgeber. Du hieltest Hof, schwelgtest ungeniert in der Anerkennung, die dir gut tat und nach der du durchaus süchtig warst wie nach leckeren Torten. Auf diese Weise erhobst du dich über dein Leben, so wie ich es tat in waghalsigen Vorstellungen von einer Karriere als Journalist.
Dein persönliches Drama, das du zuvor verlesen hattest, wurde auf dieser Bühne als Tragikomödie fortgeführt. Es gab keine Rettung, aber eine gute Pointe über die Endstation Neukölln konnte hier sogar den Tod in die Flucht schlagen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Du warst kein verblendeter Narziss. Im Spiel mit Größe und Abgründen warst du ein Virtuose, deiner Ruhmessucht warst du dir ebenso bewusst wie der Bedürftigkeit, die damit gestillt werden wollte. Beides hast du zugleich gelebt und kommentiert, ohne dir dafür böse zu sein.
Wie lebt man angesichts der Todes? Wie geht Mut, wenn man vor Angst schlottert?
Gerne brachst du alle Illusionen, die du selbst gerade lustvoll erschaffen hattest. Du hast dabei das Kunststück vollbracht, Pathos und Ironie zugleich zu verkörpern. Am Schluss eines solchen Abends fiel kein Vorhang, sondern du rafftest Blumen und Bücher zusammen, riefst dir ein Taxi und rauschtest zurück in deine „Zimmerschachtel“.
Nur bei vordergründiger Betrachtung hast du 30 Jahre lang darüber geschrieben, wie es ist, bald sterben zu müssen. In Wirklichkeit hast du so offen wie kein anderer die tiefsten Fragen des Menschseins ausgelotet. Wie können wir leben angesichts des Todes? Wie geht Mut, wenn man vor Angst schlottert, und Selbstbewusstsein, wenn man gebrochen ist?
Für Antworten auf diese Fragen darf man auch mal dreißig Jahre brauchen.
Weil sich die Antworten nicht in wenige Worte fassen ließen, bist du erst Schauspieler, dann Dichter geworden. In langen Gesprächen hast du nicht weniger lyrisch formuliert als in deinen Büchern.
Ich habe dich so gerne gelesen, dir so gerne zugehört! Hinterher habe ich mich oft ein kleines bisschen weiser gefühlt, so als wäre ich gerade einen Schritt näher herangetreten an das, was im Leben wirklich zählt. Als hätte ich gerade über die Kante in den Abgrund geschaut, und es fühlte sich so an, als könnten wir im entscheidenden Moment vielleicht doch fliegen.
Eine Sensation: Aufbruch mit Balkon im Steglitzer Schloss
Auch du selbst hast es ja geschafft, die Flügel zu spreizen und dich über deine Knastmauern zu erheben. Dass es seit 1996 die Kombinationstherapien gegen HIV gibt, war eine Grundlage dafür, aber dein Aufbruch war ganzheitlich. Schon 1994 folgte dem „nächtlichen Bericht“ die „Biografie eines lebendigen Tages“.
„Der Dichter ist umgezogen“, lautete dann im Jahr 2000 der erste Satz eines Porträts über dich, das ich für das Stadtmagazin Siegessäule schrieb. Dass du deine Zimmerschachtel zum Altpapier gegeben hattest, war eine geradezu ungeheuerliche Meldung für alle, die deine Bücher kannten. Mario Wirz, der todgeweihte Autor, hatte den Posten an der Endstation aufgegeben und war noch einmal aufgebrochen.
Du lebtest auf. Den „Säulen meiner Mutlosigkeit, Armut und Aids“ zum Trotz gingst du mit deinem geliebten Lebensgefährten André segeln. Auf dem Wasser warst du glücklich. Eine steife Brise straffte erst deine Segel und trug dich dann in die Höhe. Du zogst in eine helle Wohnung in einem Gartenhaus in Steglitz, mit einem Balkon, „zwar nur ein Balkon für einen Monolog, aber ein Balkon“.
Beim Besuch in deinem Steglitzer Schloss hast du mir etwas mit auf den Weg gegeben: die tiefe Erkenntnis, dass schwules Selbstbewusstsein nur die eine Seite der Medaille ist. Wenn wir uns in diese blitzende Seite zu sehr verlieben, weil sie uns schmeichelt und wir sie uns so hart erkämpft haben, versäumen wir leicht, auch die andere zu betrachten: „Man wünscht sich moderne Homosexuelle einfach emanzipiert, selbstbewusst und klar“, hast du mir damals gesagt. „Aber es wäre töricht, dieses wichtige Konzept fundamentalistisch zu nehmen und alle anderen Wahrheiten auszublenden, nur weil sie nicht in unser Bild von uns passen.“
Im Briefwechsel „Folge dem Fieber und tanze“ mit Freund und Kontrahent Rosa von Praunheim traten darum 1995 nur scheinbar ein Aktivist und ein introvertierter Dichter gegeneinander an. In Wirklichkeit fanden hier mit euch beiden zwei Idealtypen zueinander, die sich ergänzen und nicht ohne einander können.
Dein Beitrag zu einer besseren Welt war der unerschrockene Blick auf Verletzungen und Schwäche.
Auf deine ganz eigene Art warst auch du ein Aktivist. In „Es ist spät, ich kann nicht atmen“ hattest du auch über die Angst geschrieben, die Nachbarn könnten von deiner Krankheit erfahren: „Ich habe es gerade mal gepackt, halbwegs zu meinem Schwulsein zu stehen.“ Kurz darauf hast du dich in Talkshows der ganzen Republik zu erkennen gegeben. Und ein Blick in das Buch zeigt schnell: Es war nicht nur Klage, sondern auch Anklage gegen die, die ausgrenzen.
Du hast tatsächlich selten lautstark für eine bessere Welt gestritten. Dein Beitrag war der unbeschönigte Blick auf Verletzungen und Schwäche, die manch unerschrockener Aktivist sich nicht traut und die wahrhafte Stärke erst möglich machen.
Bei aller Schwere konnte darum das, was du schriebst, den Leser erleichtern. Kein anderer Dichter besang so eindringlich seine Abgründe. Keiner konfrontierte sich so direkt mit der Gewissheit, nicht nur sterblich, sondern auch bald an der Reihe zu sein. Es mag der Mut der Verzweiflung gewesen sein, aber dein Mut war groß. Er ermöglichte dir, uns maßlos zu beschenken.
Bis zum Schluss hast du dich ganz offen gezeigt in deiner Zerrissenheit und deiner Zuversicht, in deiner panischen Angst und in deiner unbeirrbaren Dankbarkeit noch am Leben zu sein. Keine Widersprüche sahst du darin, sondern einfach deine Realität. In deinem letzten Interview hast du mir gesagt, was dein fast 30-jähriger Pas de deux mit dem Tod dich fürs Leben gelehrt hat:
„Ich habe gelernt, das Leben zu lieben, ohne Bedingungen zu stellen oder Wünsche ins Universum zu seufzen, die das Leben und das Glück überfordern. Ich habe gelernt, mich mit meinen Macken zu bejahen, mir selbst und anderen mit Nachsicht zu begegnen. Ich habe gelernt, den großen Wichtigkeitszirkus des Lebens mit seinen schrägen Eitelkeiten und seinem Größenwahn nicht mehr ernst zu nehmen.“
Du hast gezeigt, dass es möglich ist, einverstanden zu sein mit allem, was sich nicht ändern lässt: „Ich fände es ungerecht, jetzt mein Schicksal zu beschimpfen.“ Und: „Der Tod wird nur grantig, wenn wir ihn verleugnen und verraten. Er ist ein Freund, wenn wir es wagen, ihn zu denken und zuzulassen.“
Dies wissend, bliebst du ungebrochen bis zum Schluss, trotz fast drei Jahrzehnten HIV, trotz mehrerer Krebserkrankungen, trotz Chemotherapie und all den anderen gesundheitlichen Zumutungen.
Ein Stück über den Tod hat kein Happy End, kann aber zum wahren Glück führen.
Mein lieber Mario, du hast uns gezeigt, wie wertvoll das Leben wird im Bewusstsein seiner Endlichkeit. Als einzelner Satz klingt das nach Kalenderspruch. Wenn es jemand vorlebt, ist es vielleicht das Tiefgründigste, was sich erfahren lässt.
Dass dein letztes Prosawerk – verfasst mit Freund Christoph Klimke – „Unwiderruflich glücklich“ heißt, sagt alles: Ein Stück über den Tod mag kein Happy End haben, aber das wahre Glück finden wir wohl nur auf diesem Weg.
Ich durfte dir unterwegs begegnen und durch dich mir selbst näher kommen. Dafür werde ich dir immer dankbar sein.
PS Mein lieber Mario, mach dir bitte keine Sorgen wegen des Fotos. Wir nehmen eins von den schönen, die du mir für unser letztes Interview ans Herz gelegt hast. Keins von denen, auf denen du blond bist, denn ich weiß, du magst dich darauf nicht mehr. „Ich bin blond und unsterblich“, hast du damals dem Journalisten Paul Schulz im Interview gesagt. Mit „blond“ hast du dich geirrt.
Mario Wirz ist tot – Meldung auf aidshilfe.de vom 31.5.2013
“Der Tod hat keine Macht über das Glück” – das letzte Interview mit Mario Wirz
Mario Wirz: “Ich bin blond und unsterblich”, Interview im DAH-Blog, 10.9.2009
Der Gedichtband “Jetzt ist ein ganzes Leben” erscheint am 20. Juni im Aufbau-Verlag.