Xanthopsia („Gelbsehen“), eine Störung, an der der Maler Vincent Van Gogh litt, Atemwegsverengungen, unwillkürliche Bewegungen, Atemlähmungen und so weiter – das sind nur einige wenige von über 1.600 dokumentierten Nebenwirkungen von Medikamenten.
Und genau diese “Nebenwirkungen” sind übrigens der Hauptgrund für Krankenhausaufnahmen in unserer “westlichen” Welt (siehe auch mein Beitrag: Medikamente – Nebenwirkung Tod). Und diese Art von Wirkungen sind nur schwer vorauszusehen… Zwar müssen bestimmte Tests durchgeführt werden, um die Sicherheit einer neuen Substanz in der vorklinischen Phase bestimmen zu können. In der Realität sieht es aber eher so aus, dass die meisten Nebenwirkungen erst dann entdeckt werden, wenn die Substanz schon zugelassen und in den allgemeinen Verkehr gekommen ist.
Und genau zu diesem Thema gibt es eine aktuelle Studie aus dem Forschungsinstitut für Biomedizin (IRB Barcelona) in Barcelona: die versucht nämlich dieses Informationsloch zu stopfen. Ziel der Studie war, die molekularen Grundlagen für das Auftreten von Nebenwirkungen zu untersuchen. Dies würde Pharmakologen befähigen, bessere und sicherere Medikamente zu kreieren und deren Wirksamkeit vorauszusagen.
Die Studie sammelte und kategorisierte molekulare Hypothesen für insgesamt 1.162 Nebenwirkungen. Diese Information, die noch in der Praxis ausgetestet werden muss, steht jetzt schon der wissenschaftlichen Gemeinde zur Verfügung (siehe die letzte Ausgabe des Journals Chemistry and Biology, Teil der „Cell“ Gruppe). Die Autoren Miquel Duran und Patrick Aloy stellten alle die Medikamente zusammen, die bekannte Nebenwirkungen verursachen. Als nächstes studierten sie die Proteine, mit denen sie interagierten und deren chemische Struktur. „Für die meisten Nebenwirkungen haben wir eine biologische Hypothese. Und für viele dieser Fälle haben wir auch chemische Informationen über die Substanz, was nützlich ist, um die spezifischen Sekundäreffekte vorauszusagen“, erklärt Patrick Aloy. Von den 1.162 Nebenwirkungen, für die sie eine molekulare Charakterisierung gefunden hatten, konnten 446 Nebenwirkungen alleine auf biologischer Basis und 68 nur auf chemischer Basis erklärt werden. 648 Nebenwirkungen oder 56 Prozent hatten sowohl eine biologische als auch eine chemische Basis als Ursache. Ein paar Beispiele: Xanthopsia und das orobuccolinguale Syndrom
Eine der beschriebenen Nebenwirkungen ist das orobuccolinguale Syndrom oder Spätdyskinesie. Hier handelt es sich um eine Störung, bei der unkontrollierte Bewegungen von Gesicht, Körper und Gliedmaßen erfolgen. Diese Störung wird von sechs Medikamenten ausgelöst. Die Forscher gehen davon aus, dass Medikamente, deren Struktur einen Piperazinring (kommt in vielen Neuroleptika vor) enthält und zusätzlich mit bestimmten Rezeptoren (5-HT2A und/oder DRD2) interagiert, eine höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, dieses Syndrom auszulösen als andere. „Dies ist ein Beispiel, wo die Ursache auf einer biologischen und chemischen Basis begründet ist“, sagt Miquel Duran.
Eine andere bezeichnende Nebenwirkung ist das „Gelbsehen“. Hier erscheint die Welt für den Betroffenen in vornehmlich gelben Farben. Die Forscher glauben in diesem Fall nicht, dass ein spezifisches Protein für den Effekt verantwortlich ist. Vielmehr beobachteten sie veränderte chemische Strukturen, die diese Störung verursachen. Es werden 12 Medikamente mit dieser Störung in Zusammenhang gebracht. Für die Wissenschaftler ist es eine Notwendigkeit, biologische und chemische Mechanismen miteinander zu kombinieren, um feststellen zu können, wo die Ursachen für die Entstehung von Nebenwirkungen liegen. „In der Praxis gibt es für jeden unerwünschten Effekt einen biologischen Part, der bekannt ist. Aber dieser Ausschnitt bietet keinen Einblick in das komplette Bild der verursachenden Mechanismen. Vielleicht werden wir in der Lage sein, diese Lücke zu füllen, indem wir die chemischen Strukturen näher unter die Lupe nehmen“, kommentiert Duran.
Quelle: Chemistry & Biology, 2013; 20: 594 / Understanding and Prevention of Side Effects Caused by Drugs