Menschen mit HIV, die Stigmatisierung erleben, haben oft Scham- und Schuldgefühle. Man spricht hier auch von „verinnerlichter Stigmatisierung“ – Thema unter anderem auf der DAH-Fachtagung „Ausgrenzung.Macht.Krankheit“ im Oktober 2012 und in einem Videoclip der DAH. Nun setzen sich HIV-Positive auch in einer Themenwerkstatt damit auseinander. Carolin Vierneisel und Christina Laußmann sprachen mit zwei Teilnehmenden.
Gabriele und Holger, warum nehmt ihr an der Themenwerkstatt zum kollektiven Umgang mit verinnerlichter Stigmatisierung bei Menschen mit HIV teil?
Gabriele: Nach zehn Jahren HIV-Infektion und den vielen damit verbundenen Erlebnissen hatte ich die Nase voll. Ich bin ständig negativen Eindrücken von außen in Bezug auf HIV ausgesetzt und verinnerliche sie auch noch. Das kann nicht so weitergehen! Das daraus entstehende Gefühl muss verbalisiert und gestoppt werden. Hier in der Gruppe kann ich etwas dafür tun. Wir alle können Konzepte für den Umgang mit verinnerlichter Stigmatisierung und Diskriminierung entwickeln und weitergeben. Die Themenwerkstatt ist für mich ein erster Schritt zur Veränderung.
Holger: Ich war schon beim DAH-Projekt „positive stimmen“ als Interviewer dabei. Während der Interviews ist mir aufgefallen, dass es beim Thema „verinnerlichte Stigmatisierung“ den meisten Redebedarf gab – und die größte Notwendigkeit, etwas zu tun. Ich habe mich dann weiter eingearbeitet und engagiere mich jetzt in der Themenwerkstatt.
Strategien für die Communities entwickeln
Also spielt das Thema bei HIV-Positiven eine große Rolle?
Holger: Absolut! Die Selbstbelastung durch Ängste und Vorwürfe, die man sich macht, ist eines der tragenden Themen. Hier müssen Bewältigungsstrategien her.
Was soll hierzu in der Themenwerkstatt passieren?
Gabriele: Zunächst geht es darum, Möglichkeiten zu schaffen, um die Gefühle von verinnerlichter Stigmatisierung und Diskriminierung verbalisieren zu können. Sie müssen aufgedeckt und diskutiert werden. Dann können wir sie von einer anderen Seite betrachten und sehen, dass es auch anders geht. Wir können uns trotzdem positiv fühlen – positiv positiv.
Holger: In der Themenwerkstatt geht es nicht darum, den Gegenstand für sich selbst zu bearbeiten. Vielmehr wollen wir Strategien für die Communities entwickeln, damit sie unsere Ideen und Konzepte aufgreifen und damit weiterarbeiten können.
Gabriele: Genau, also von uns HIV-Positiven für HIV-Positive.
Oft ist HIV-Positiven das verinnerlichte Stigma nicht bewusst
Gibt es Unterschiede bei den Gruppen? Gabriele, wie ist das aus der Sicht der Frauen?
Gabriele: Unter Frauen bemerke ich oft einen starken Rückzug. Scham, Vorwürfe und Schuldgefühle spielen hier eine große Rolle und münden in sexuelle Ängste – in die Angst davor, von Heteromännern abgelehnt zu werden, bis hin zur Verdrängung von Sexualität. Aber auch der Gedanke, für die Gesellschaft ein Problem, für sie nicht mehr zumutbar zu sein – also Minderwertigkeitsgefühle –, und die Angst vor Ausgrenzung sind nach meiner Erfahrung wichtige Themen bei Frauen. Ich persönlich habe oft den Eindruck, dass wir Frauen keine Lobby haben.
Welche Bedeutung hat dann der Austausch über solche Gefühle in einer Gruppe?
Gabriele: Gruppen mit HIV-positiven Menschen sind für mich ein Schutzraum, in dem ich sein darf wie ich bin. Dort kann man zum Thema machen, was einen zu Hause allein auf dem Sofa bewegt. Die Ängste, die einen überfallen, die Unsicherheiten, die man vielleicht nicht einordnen kann – das alles gemeinsam zu diskutieren, bringt ein Stück Entlastung.
Holger, welchen Eindruck hast du aus den Interviews im Projekt „positive stimmen“ gewonnen?
Holger: Aus den Gesprächen wurde deutlich, dass eigentlich alle Interviewpartner und -partnerinnen mit verschiedenen Formen von Stigmatisierung leben. Oft war ihnen das aber gar nicht bewusst. Ich vergleiche das gerne mit dem Coming-out als schwuler Mann: Man fühlt, dass da etwas ist, aber man hat noch keinen Begriff dafür.
Manchmal muss erst ein Bewusstsein für die eigenen Gefühle und Erlebnisse geschaffen werden, um sich mit dem Thema auseinandersetzen zu können. Hier waren die Interviews sehr hilfreich, weil ich Fragen stellen und Impulse geben konnte. Das half den Interviewpartnern zu verstehen, welchen Umfang und welche Auswirkungen Selbststigmatisierung haben kann.
“Als Frau sagst du dir vielleicht: Wärst du doch bei einem Partner geblieben”
Warum gelangt so etwas so schwer ins Bewusstsein?
Gabriele: Stigmatisierung und Diskriminierung von außen sind von Anfang an spürbar – durch Freunde, die einen verlassen, oder dass man es am Arbeitsplatz nicht sagen kann. Mir war lange nicht bewusst, dass ich diese Erlebnisse als ein Stigma speichere, das ich mir selbst zuschreibe. Das geschieht schleichend, unbemerkt.
Warum entstehen Gefühle von Schuld und Scham?
Gabriele: Dahinter stecken gesellschaftliche Moralvorstellungen. Als Frau sagst du dir vielleicht: Hättest du doch geheiratet, wärst du doch bei einem Partner geblieben. Ich glaube, nach so einer Diagnose verlierst du für einen Moment die Stärke. Bei mir war das so. Ich habe mich dann einfach von den negativen Strömungen meines Umfelds mitreißen lassen.
Holger: Es existieren immer noch die alten Bilder aus den 1980er und 90er Jahren. Das Bewusstsein, dass sich das Leben mit HIV im Lauf der Zeit komplett verändert hat, entsteht erst sehr langsam. Außerdem wird HIV immer noch mit Themen in Verbindung gebracht, die nach wie vor mit Tabus versehen sind. Dazu gehören zum Beispiel Sexualität und Drogengebrauch.
“Wir müssen aktiv werden, zur Rede stellen und durch Aufklärung gegensteuern”
Was muss jetzt und in Zukunft getan werden?
Holger: Einerseits müssen wir dafür sorgen, dass in der Öffentlichkeit neue, positive Bilder geschaffen werden. Es geht um das „neue HIV“, das letztlich nur noch eine chronische Krankheit ist, ohne dabei die letzten 30 Jahre Geschichte und Erfahrung über Bord zu werfen. Andererseits wollen wir Aktivisten auch nach innen wirken und anderen HIV-Positiven zeigen, dass man mit dem Thema HIV auch anders und offener umgehen kann.
Gabriele: Wir sollten aktiv werden und die Ergebnisse der Themenwerkstatt kommunizieren – auch in Form von Medienarbeit und politischer Arbeit.
Holger: Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, gegen negative Einflüsse anzukämpfen. Bei der Homo-Ehe erleben wir zurzeit Ähnliches. Da meinen einige, die Schwulen seien Schuld am Untergang der Familie. Die Kirche, die konservative Politik – das sind alles Institutionen, die diese negativen Einflüsse schüren. An dieser Stelle müssen wir aktiv werden, zur Rede stellen und durch Aufklärung gegensteuern.