Vor 25 Jahren forderte Frankfurts Oberbürgermeister Brück eine „lebenslange Quarantäne für Uneinsichtige“, die nicht für Verhaltensänderungen zum Schutz vor HIV zu gewinnen seien. Die HIV-Community reagierte mit einem Aktionstag „Solidarität der Uneinsichtigen“ in seiner Stadt. Ein Kalenderblatt von Axel Schock
Radikale Forderungen im Zuge der Aidskrise waren Ende der 80er Jahre keineswegs eine rein bajuwarische Spezialität. Bayern hatte zwar als erstes Bundesland mit seinem 1987 verabschiedeten „Maßnahmenkatalog zur Abwehr von AIDS“ ein breit gefächertes und weithin kritisiertes Instrumentarium aufgesetzt – es reichte von der Kontrolle bis zur Entrechtung und Absonderung sogenannter Ansteckungsverdächtiger –, aber auch in anderen Ecken der Republik entwickelten Politiker ähnliche Szenarien.
„Unbelehrbare“ Schwule?
Frankfurts Oberbürgermeister Wolfram Brück (CDU) etwa forderte eine „lebenslange, der Krankheit angemessene Quarantäne für Uneinsichtige“. Gemeint waren damit vor allem Beschaffungsprostituierte beiderlei Geschlechts sowie „unbelehrbare“ Schwule – Menschen also, die nach Ansicht Brücks nicht für Verhaltensänderungen zum Schutz vor Aids zu gewinnen seien.
Die Worte des Oberbürgermeisters waren unmissverständlich: Sie wollten Kampfansage und Drohung sein und waren zugleich auch eine ungeheuerliche Diffamierung. Doch die Beschimpften und Bedrohten wehrten sich und reagierten mit einem Aktionstag unter dem Motto „Solidarität der Uneinsichtigen“.
„Wir solidarisieren uns mit den HIV-Antikörper-Positiven, die mit den Instrumenten des Seuchenrechts ‚aus dem Verkehr‘ gezogen werden sollen – und das unter dem falschen Etikett der Aids-Prävention“, hieß es im Aufruf zu dem von der Deutschen AIDS-Hilfe mit initiierten Protesttag am 9. Juli 1988.
Rund 1500 Menschen beteiligten sich an der Demonstration – „Uneinsichtige, Unbelehrbare und Desperados“, wie es im Demoaufruf hieß, also Schwule, Prostituierte und Drogengebraucher, aber auch Aidshilfe-Mitarbeiter, Ehrenamtler wie auch zahlreiche Unterstützer aus unterschiedlichsten Organisationen und Institutionen wie der Gewerkschaft ÖTV, dem Fachverband Drogen und Rauschmittel sowie von SPD und Grünen.
Gemeinsam zogen sie durch die Frankfurter Innenstadt. Die Route führte vom Ausgangspunkt Kaisersack, Frankfurts Stricher- und Junkietreffpunkt im Bahnhofsviertel, über die Breite Gasse im Rotlichtbezirk zur Haftanstalt an der Konstablerwache, in der Asylbewerber auf ihre Abschiebung warteten. An den einzelnen Etappen formulierten unter anderem Vertreter der Aidshilfen, der Prostituierten-Selbsthilfegruppe HWG und des Bundesverbandes Homosexualität ihre Kritik an der bereits herrschenden bzw. drohenden Aids-Politik.
„Uneinsichtig gegenüber unvernünftigen Forderungen“
„Wer heute hier ist, ist uneinsichtig gegenüber unvernünftigen Forderungen auf sexuellen Verzicht. Unbelehrbar, wo nicht Einsicht in die Notwendigkeit vorsichtigen oder verantwortbaren Verhaltens zwischen Partnern, sondern Gehorsam gegenüber politischen Instanzen gefordert wird“, sagte der Vorsitzenden der Deutschen AIDS-Hilfe, Dieter Runze, auf der Schlusskundgebung.
Desperados seien all diejenigen, die verzweifelt darüber seien, dass die demokratischen Rechte der Bürger mittels Aidspolitik und Maßnahmekatalog ausgehebelt werden. „Im politischen Umgang mit Aids erweist sich, ob die Bürger dieses Landes für mündig gehalten werden oder nicht“, resümierte Runze.
Hans Peter Hauschild von der Frankfurter AIDS-Hilfe hatte bereits im Vorfeld des Aktionstages erlebt, wie kontrovers Brücks Forderung nach Quarantäne diskutiert wurden. Das linke Frankfurter Stadtmagazin „Pflasterstrand“ hatte das Motto des Aktionstags als „unerträgliche Geschmacklosigkeit der AIDS-Hilfe“ bezeichnet. Und selbst viele ehrenamtliche Mitarbeiter der Aidshilfe wie auch Vertreter der Schwulenszene hegten durchaus Sympathien für die Haltung des Oberbürgermeisters.
Hauschild nutzte seine Rede, um für die Positionen der Demonstranten zu werben und eindrücklich vor einem Bruch zu warnen. „Heute müssen deutliche Worte folgen, denn wir sind zusammen mit den Prostituierten, den Drogenabhängigen und anderen Männern und Frauen auf der Straße, die ebenso wie wir die Normen brechen. Wir alle sind uneinsichtig. Wir sehen nicht ein, dass wir Infizierten und Hauptbetroffenen 200 % Verantwortung tragen sollen. Wir leben selbstverständlich weiter unsere Sexualität! Wir lassen uns auch nicht spalten in brave Schwule und gefährliche, süchtige Nutten“, erklärte Hauschild. „So wie wir ‚schwul‘ sagen statt ‚homosexuell‘, um im Begriff der Verachtung unseren Stolz zu formulieren, sagen wir heute ‚uneinsichtig‘, um den Stolz unseres selbstbestimmten Lebens auszudrücken.“
„Wir alle sind uneinsichtig!“
Für Hauschild waren die Auseinandersetzungen rund um Brücks Äußerung und den Aktionstag „Solidarität der Uneinsichtigen“ wichtige Initialzündungen, die HIV-Prävention neu und in einem größeren sozialen Kontext zu überdenken. Die erste Lehre, die er daraus zog: Das Verhalten kann nicht von den Verhältnissen getrennt werden. Und: Nur wer in seiner Lebenswelt weder diskriminiert noch kriminalisiert wird und wessen Lebensstil gesellschaftlich akzeptiert wird, hat wirklich die Wahl, seine Gesundheit zu schützen.
„Politik und Gesellschaft müssen einsehen, dass Einrichtungen der Selbsthilfe im Schwulen-, Drogen-, Prostituierten- und Knastmilieu erhalten und ausgebaut werden müssen“, wurde daher bereits wegweisend auf dem Aktionstag gefordert. Ein gutes Jahr später, Hauschild war inzwischen in den Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe gewählt worden, präsentierte er das Konzept der „Strukturellen Prävention“, bis heute Grundlage für die Arbeit der DAH.
Ein Sonderband der Reihe „AIDS-FORUM DAH“ mit allen Redebeiträgen und weiteren Texten rund um den „Aktionstag der Uneinsichtigen“ ist als PDF-Datei online abrufbar.