Sprechen Wissenschaftler von einem Review oder einer systematischen Übersichtsarbeit, dann meinen sie damit eine wissenschaftliche Veröffentlichung, die den Forschungsstand zu einem Thema zusammenfasst. Das Journal „Acupuncture and Related Therapies“ (ART) veröffentlichte im vergangenen Jahr ein Review von Dr. med. Stefan Weinschenk (1) zum therapeutischen Einsatz von Lokalanästhetika, welches speziell medizinische Fachkreise anspricht. Neuraltherapeuten und an der Neuraltherapie (NT) interessierte Ärztinnen und Ärzte erfahren hier, welche NT-Indikationen mit welchen Ergebnissen bisher erforscht wurden. Dr. Weinschenk untersuchte den Forschungsstand in insgesamt fünf Indikationsgruppen: akute und chronische Schmerzen, funktionelle Syndrome bzw. Beschwerden ohne organische Ursache, das vegetative bzw. autonome Nervensystem betreffende Systemerkrankungen, chronische Entzündungen und weitere Erkrankungen. Der besondere Reiz dieser Übersichtsarbeit: Weil NT-Forschung fast ausschließlich „praxis-getrieben“ ist, zeigen Forschungsaktivitäten oftmals, bei welchen Indikationen in der Praxis therapeutische Erfolge beobachtet werden. Frei nach David Sackett, dem Vater der evidenzbasierten Medizin, repräsentieren diese nicht selten die individuelle klinische Expertise bzw. interne Evidenz vieler Einzelfälle.
Abbildung: „Neural therapy – A review of the therapeutic use of local anesthetics“, eine systematische Übersichtsarbeit von Dr. med. Stefan Weinschenk im Journal „Acupuncture and Related Therapies“
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Wertvolle Einblicke in die ärztliche Praxis der Neuraltherapie
Systematische Übersichtsarbeiten zu medizinischen Forschungsgebieten bieten Wissenschaftlern, Ärzten und auch Patienten vielseitig nutzbare Informationen. Zunächst einmal helfen Reviews Anwendern dabei, Ergebnisse aus klinischen Studien in ihre Arbeit zu integrieren, indem sie Daten zur sogenannten externen Evidenz komprimiert zur Verfügung stellen. Gut geplante Übersichtsarbeiten helfen bei der Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte therapeutische Maßnahme bei der Behandlung einer bestimmten medizinischen Indikation wirksam, sicher und kosteneffizient ist – so die Theorie. Folgt man einer Analyse der unabhängigen Cochrane Collaboration (2), wonach vor fünf Jahren nur bei 3,4 Prozent von 1.016 untersuchten Reviews eine klare Aussage zugunsten oder zulasten einer bestimmten medizinischen Intervention möglich war (3), so ist der praktische Nutzen von Reviews wahrscheinlich begrenzt. Reviews können trotzdem ein wertvoller ergänzender Ratgeber und Indikator sein, neben interner Evidenz (klinischer Expertise) und Patientenpräferenzen.
Indikator für interne Evidenz vieler Einzelfälle
Der besondere Wert von Dr. Stefan Weinschenks systematischer Übersichtsarbeit „Neural therapy – A review of the therapeutic use of local anesthetics“ liegt meiner Meinung nach auf einem ganz anderen Gebiet. Weil NT-Forschung überwiegend „praxis-getrieben“ ist, spiegelt sein Review bis zu einem gewissen Grad die ärztliche Praxis der Neuraltherapie wieder. Seitdem Ferdinand Huneke die therapeutischen Möglichkeiten des Einsatzes von Lokalanästhetika 1925 eher zufällig entdeckte, hat sich die Neuraltherapie in einer Reihe von Indikationsgruppen etabliert, weil Ärztinnen und Ärzte sie bei diesen Erkrankungen ausprobierten und gute – teilweise sogar spektakuläre – Erfahrungen machten. Nach dem Prinzip „Forschung folgt therapeutischer Praxis“ haben sich in den letzten 30 Jahren dann Wissenschaftler damit beschäftigt, die Praxis der Neuraltherapie systematisch und wissenschaftlich zu untersuchen. Nach der reinen Lehre der evidenzbasierten Medizin gibt es auf diesem Gebiet – konkret der externen Evidenz – noch viele offene Fragen. Das zeigt auch Weinschenks Übersichtsarbeit. Ein wichtiger Grund für diese weißen (Forschungs-) Landkarten ist jedoch nicht fehlender therapeutischer Erfolg, sondern in erster Linie fehlendes Geld. Forschungsgelder fließen in der Medizinforschung derzeit vor allem dorthin, wo sich mit patentierten Produkten viel Geld verdienen lässt. Damit kann die Neuraltherapie nicht dienen.
Physiologische Prozesse sind weitgehend bekannt
Zur Forschungslage der Neuraltherapie heißt es im Review u.a.: „In contrast to this expanded knowledge concerning the underlying mechanisms of neural therapy and its frequent use in Central Europe, there is an obvious lack of clinical evidence.“ Im Gegensatz zu komplementären Verfahren wie z. B. Homöopathie oder Akupunktur ist bei der Neuraltherapie relativ gut erforscht, was beim Einsatz von Lokalanästhetika wie z. B. Procain oder Lidocain auf molekularer Ebene bzw. physiologisch abläuft und den therapeutischen Effekt beeinflusst. Siehe hierzu auch die Beiträge „Warum Procain?“ und Neuraltherapie bei chronischen Entzündungen hier im Blog. Ein Mangel besteht nach wie vor an klinischer Evidenz, beispielsweise um die ca. 3.000 Einzelfallstudien des Schweizer HTA-Berichts durch hochwertige klinische Studien kritisch zu hinterfragen oder untermauern zu können. Von großem Wert ist jedoch, dass Dr. Stefan Weinschenk das „Grundrauschen“ der NT-Forschung aktuell zusammengefasst und in fünf Indikationsgruppen eingeordnet hat. Insbesondere Ärztinnen und Ärzte, die sich für die Neuraltherapie interessieren, jedoch wenig Wissen über die wissenschaftlichen Grundlagen haben, erfahren durch die Indikationsgruppen des Reviews indirekt, wie die ärztliche Praxis der Neuraltherapie aussieht, in welchen Bereichen die therapeutische Lokalanästhesie seit vielen Jahrzehnten schwerpunktmäßig eingesetzt wird und in welchen Bereichen nicht.
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Neuraltherapie-Indikationsgruppen:
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1. akute und chronische Schmerzen
Indikationen mit dem Hauptsyndrom Schmerz, z. B. Neuralgien, Kopfschmerzen aller Art, Organschmerzen aller Art, Schmerzen des Bewegungsapparats oder Phantomschmerz – Die Therapie von Schmerzen ist eine Domäne der Neuraltherapie. Unter dem Namen „diagnostische und therapeutische Lokalanästhesie“ oder „lokale Nervenblockade“ sind Teile der Neuraltherapie in Schmerzzentren und -ambulanzen weit verbreitet. „Schmerzbehandlung mittels Injektionen von Lokalanästhetika (sog. lokale und segmentale Neuraltherapie)“ werden inzwischen ohne zeitliche Einschränkung von der Schweizer Grundversicherung bezahlt (4).
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2. funktionelle Syndrome bzw. Beschwerden ohne organische Ursache
Beschwerden an unterschiedlichen Stellen des Körpers, bei denen das jeweilige Organ selbst nicht geschädigt ist, jedoch eine Beeinträchtigung seiner Funktion aufweist. Auslöser ist oftmals eine Fehlfunktion des vegetativen bzw. autonomen Nervensystems. Beispiele: Reizdarmsyndrom, Reizmagen, Reizblase, Reizhusten, funktionelle Herzschbeschwerden wie z. B. Herzrhythmusstörungen – jeweils ohne organischen Befund.
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3. das vegetative bzw. autonome Nervensystem betreffende Systemerkrankungen
Alle Organe werden von Nervenfasern des vegetativen bzw. autonomen Nervensystems – Sympathikus und Parasympathikus – nervlich versorgt und gesteuert. Lang anhaltender Disstress (negativer Stress) z. B. in Form von Ärger, Wut oder Angst kann die Entstehung von vegetativen Systemerkrankungen fördern. Dr. Stefan Weinschenk nennt in dieser Kategorie u.a. das Raynaud-Syndrom (Morbus Raynaud), eine Gefäßerkrankung, die durch anfallsweises Erblassen der Hände oder Füße aufgrund von Vasospasmen gekennzeichnet ist (5). Das Review verweist auf vielversprechende Forschungsarbeiten, die darauf hindeuten, dass eine frühzeitige Sympathikolyse bei Erkrankungen wie dem Morbus Raynaud entlastend und therapeutisch wirken kann.
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4. chronische Entzündungen
Dr. Dr. med. Petja Piehler, Chefärztin Innere Medizin an der RoMed Klinik Wasserburg am Inn, sagte mir in einem Interview (6): „Viele Zivilisationskrankheiten wie z. B. das metabolische Syndrom, Arteriosklerose, chronische Lungen- und Darmerkrankungen oder Typ-2 Diabetes zeichnen sich dadurch aus, dass lang anhaltende subklinische entzündliche Prozesse – man spricht auch von „silent inflammation“ – das Krankheitsgeschehen begleiten und sehr wahrscheinlich zur Chronifizierung beitragen.“ Das Review verweist auf die starken anti-entzündlichen Effekte von Lokalanästhetika, die eine schwedische Forschergruppe in 227 wissenschaftlichen Publikationen gefunden hat.
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5. mögliche zukünftige NT-Indikationen
Unter der Überschrift „Miscellaneous indications“ fasst Dr. Stefan Weinschenk in seiner fünften Gruppe verschiedene Indikationen zusammen, die in der neuraltherapeutischen Praxis bisher keine große Rolle spielen, aufgrund der vorgestellten Forschungsarbeiten zukünftig jedoch vielleicht mehr Aufmerksamkeit verdienen könnten. Beispielsweise geht es um wissenschaftliche Publikationen zu den Indikationen Onkologie (zur Sekundärprävention), Alzheimer-Krankheit (In-Vitro-Forschung), Hypercortisolämie und Stresstherapie und Wundheilung. Dr. Stefan Weinschenk weist darauf hin, dass die wissenschaftlichen Publikationen zu den genannten Indikationen bisher nur erste Hinweises auf eine mögliche Wirksamkeit der Neuraltherapie geben („provide first hints to possible clinical effectiveness“) und deshalb erst weitere klinische Studien erforderlich sind, um belastbare Aussagen zu erlauben.
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Fazit:
Schaut man sich die ersten vier Indikationsgruppen an, so wird deutlich, dass die Neuraltherapie in der Lage sein könnte, eine ganze Reihe von Zivilisationskrankheiten effektiv zu therapieren. Rund 70 Prozent der Gesundheitskosten in Industriestaaten fallen heute für die Behandlung von chronischen Erkrankungen an, von denen ein großer Teil wahrscheinlich Lebensstil- und Stress-bedingt ist (unvorteilhafte Ernährung und Bewegung, Leistungsdruck, Ängste etc.). Die konventionelle Medizin bietet auf diesem Gebiet kaum kurative (heilende) therapeutische Ansätze. Werden z. B. chronische Schmerzen ohne organischen Befund über längere Zeit mit Schmerzmitteln „klein gehalten“, so schafft dies eher noch neue Risiken und Folgeerkrankungen. Die Neuraltherapie ist in den vier zuerst genannten Indikationsgruppen weder ein Wunder- noch ein Allheilmittel. Richtig und qualifiziert praktiziert handelt es sich jedoch um eine risikoarme, schonende und sehr effektive therapeutische Option, die – das berichten viele Mitglieder der Ärztevereinigung IGNH – gerade Patienten erreicht, die mit konventionellen Methoden als austherapiert gelten.
So gesehen ist es konsequent, dass das Schweizer Bundesamt für Gesundheit „Schmerzbehandlung mittels Injektionen von Lokalanästhetika (sog. lokale und segmentale Neuraltherapie) … als unbestrittene, nicht zur Komplementärmedizin zugehörige Leistung beurteilt“ (4), große Teile der Neuraltherapie inzwischen als zur konventionellen Medizin gehörig einstuft.
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Quelle:
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(1) Neural therapy — A review of the therapeutic use of local anesthetics, Stefan Weinschenk, Acupuncture and Related Therapies, Volume 1, Issue 1, 2012, Pages 5–9, http://dx.doi.org/10.1016/j.arthe.2012.12.004
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(2) Mapping the Cochrane evidence for decision making in health care, El Dib RP, Atallah AN, Andriolo RB, J Eval Clin Pract. 2007 Aug;13(4):689-92.
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(3) Okkultismus im Quadrat – Die vermeintliche Sicherheit der Evidence Based Medicine (EBM), Prof. Harald Walach, http://harald-walach.de, 16.05.2013
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(4) Änderungen bei medizinischen Leistungen, Analysen und Mitteln und Gegenständen beschlossen, Bundesamt für Gesundheit der Schweiz, 21.06.2011
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(5) Raynaud-Syndrom, Wikipedia, de.wikipedia.org, Version vom 09.04.2013
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(6) Chronische Entzündungen und moderne Zivilisationskrankheiten. Interview mit Chefärztin Dr. Dr. med. Petja Piehler. (→„silent inflammation“), Claus Fritzsche, Neuraltherapie.Blog, 15.02.2013
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